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Was ist gerecht?

Darauf haben Menschen auf der ganzen Welt unterschiedliche Antworten. Unser neuer Podcast nimmt Recht und Gerechtigkeit unter die Lupe! Seit 15. März 2023 spricht die Programmkuratorin der Stiftung Forum Recht Kathrin Schön pro Sendung mit zwei Gästen aus Gesellschaft, Justiz, Wissenschaft und Kultur.
Hört rein und taucht mit ein in neue Blickwinkel, spannende Fakten und Hintergründe zu Gerechtigkeits-Themen wie Strafe, Einheit, Rache oder Frieden.  

Seit dem 15. März, alle zwei Wochen – hier und überall wo es Podcasts gibt! 

Frieden: Wie geht das?
mit Gesine Oltmanns und Susanne Buckley-Zistel
Grafik mit dem Titel "Justice, Baby!" Folge 13 Frieden. Darunter die schwarz-weiß Portrait-Bilder von Gesine Oltmanns und Susanne Buckley-Zistel
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#13 Frieden: Wie beendet man einen Krieg?

Die wichtigste Funktion von Recht ist es, Frieden zu sichern, denn da, wo Menschen zusammenleben, sind Konflikte unvermeidbar. Das Recht aber sorgt dafür, dass sie friedlich und in einem geregelten Verfahren ausgetragen werden.

Aber was, wenn Staaten (rechtliche) Grenzen überschreiten? Wann wird es Zeit für eine Revolution? Wie weit darf man für Frieden gehen?


Darüber spricht Podcast-Host Kathrin Schön von der Stiftung Forum Recht in der letzten Folge von Justice, Baby! Dem Podcast zu Recht und Gerechtigkeit mit Gesine Oltmanns. Sie engagiert sich seit über 30 Jahren als Bürgerrechtsaktivistin, war selbst bei den Montagsdemos und der Friedlichen Revolution in Leipzig dabei und ist jetzt Vorständin bei der gleichnamigen Stiftung: https://www.stiftung-fr.de/

 

Wie kann man staatliches Unrecht aufarbeiten und nach Gewaltverbrechen wieder Frieden schließen? Das weiß Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel. Sie forscht an der Philipps Universität Marburg zu den rechtlichen Dimensionen von Transitional Justice und politischer Gewalt: uni-marburg.de

 

Welche Rolle das Völkerrecht und die Urteile des Internationalen Gerichtshofs in Den Haag beim Ringen um Frieden einnehmen, das erklärt Vera Strobel in dieser Folge. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Doktorandin am Lehrstuhl für Öffentliches Recht und Völkerrecht an der Justus-Liebig-Universität Gießen: uni-giessen.de

Ihr wollt mehr über Frieden, Recht und Gerechtigkeit wissen?

Hier findet ihr unsere Lese- und Filmtipps zur aktuellen und vorerst letzten Folge von Justice, Baby!

🏛️Regeln für den Krieg? Darum geht’s beim Humanitäres Völkerrecht:
https://www.bmvg.de/de/themen/friedenssicherung/humanitaeres-voelkerrecht

🤝Bei dem Projekt Ferien vom Krieg können junge Menschen aus Kriegsgebieten angebliche Feinde persönlich kennenlernen und sich austauschen: https://ferien-vom-krieg.de/

🌡️Das Heidelberger Institut für Internationale Konfliktforschung veröffentlicht jährlich das Konfliktbarometer, in dem die Kriege auf der Welt dargestellt werden.https://hiik.de/konfliktbarometer/

🕊️Was ist Frieden? fragt der Kurzbeitrag der Bundeszentrale für Politische Bildung https://www.bpb.de/mediathek/video/506416/was-ist-frieden/

🎞️Ein Klassiker der Anti-Kriegs-Filme ist Apokalypse Now, der während des Vietnamkriegs spielt. Er wurde mit zwei Oskars ausgezeichnet. https://www.imdb.com/title/tt0078788/

💡Übergangsjustiz oder Vergangenheitsarbeit? Die Bundeszentrale für Politische Bildung bringt hier auf den Punkt, was „Transitional Justice“ ist: https://www.bpb.de/themen/kriege-konflikte/dossier-kriege-konflikte/54742/vergangenheitsarbeit/

[Hier stellen wir in Kürze das Transkript zur Verfügung]

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#12 Einheit: Wie werden aus zwei Ländern eins?

Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Neun Monate später unterzeichneten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik einen Vertrag über die Auflösung der DDR und ihren Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland. Eine Geschichte mit Happy End?! Über 30 Jahre später spricht Podcast-Host Kathrin Schön mit ihren Gästen Prof. Winfried Kluth und Christian Bollert, über strukturelle Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen Ost und West, einen Plan B für die Wiedervereinigung und darüber, was man braucht, damit aus zwei Gesellschaften und Ländern eins wird.


Prof. Winfried Kluth ist Jurist und Historiker und forscht an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zur deutschen Einheit und Gerechtigkeit: https://kluth.jura.uni-halle.de/kluth/

Christian Bollert ist Journalist, Geschäftsführer und Gründer des Podcast-Radios Detektor.fm. Zusammen mit Melanie Stein rief er 2019 die Initiative „Wir sind der Osten“ ins Leben, die sich für eine differenzierte Wahrnehmung des Ostens in der deutschen Öffentlichkeit einsetzt: https://wirsindderosten.de/

Foto Christian Bollert: Susann Jehnichen / detektor.fm

Ihr wollt mehr über den Weg zur deutschen Einheit wissen?

💡Wer saß am runden Tisch der DDR und was wurde dort erarbeitet? Das bringt das Haus der Geschichte in einem Artikel auf ihrem Online-Portal auf den Punkt: https://www.hdg.de/lemo/kapitel/deutsche-einheit/weg-zur-einheit/der-runde-tisch.htm

🫂2 + 4 = Frieden? Ohne internationale Verträge wie den „Zwei-plus-vier-Vertrag“ hätte es die deutsche Einheit, so wie wir sie heute leben nicht gegeben: https://www.bpb.de/themen/deutsche-einheit/zwei-plus-vier-vertrag/

📽️Im Film „Buschka entdeckt Deutschland – Zeig mir deinen Osten“ entdeckt ein Reporter mit Zeitzeugen und Promis was den Osten wirklich ausmacht.

https://www.bpb.de/mediathek/video/316440/buschka-entdeckt-deutschland-zeig-mir-deinen-osten/

🎬Ostalgie: Good Bye Lenin. Die preisgekrönte Komödie von 2003 ist ein wahrer Klassiker, der sich um die Veränderungen in Ostdeutschland nach dem Mauerfall beschäftigt.

https://www.themoviedb.org/movie/338-good-bye-lenin?language=de-DE

💪Die Unterschätzten – Wie der Osten die deutsche Politik bestimmt

In dem Sachbuch geht es unter anderem darum, wie die Gesellschaft im vereinten Deutschland von ostdeutscher Prägung profitieren kann:

https://www.bpb.de/shop/buecher/schriftenreihe/507526/die-unterschaetzten/

🎞️Bingen: In der fünfteiligen Seriendoku „(K)Einheit – Wie die Generation Z über den Osten denkt“, produziert von jungen Ostdeutschen, schildern 10 GenZler ihre Perspektive auf ostdeutsche Lebensrealitäten: https://www.keinheit.de/

[Hier steht Ihnen das Transkript der Folge als PDF zum Download zur Verfügung]

Justice, Baby! Der Podcast zu Recht und Gerechtigkeit
Transkript

Folge #12 Einheit: Wie werden aus zwei Ländern eins?


Szenischer Einstieg

[Der Podcast beginnt mit unterschiedlichen Stimmen.]

Befragte:r 1 [weiblich konnotiert]:

Was ist typisch Wessi? Und was ist typisch Ossi?

Befragte:r 2 [weiblich konnotiert]:

Also wir haben einfach verhältnismäßig viele Krippenplätze, Kindergartenplätze.

Befragte:r 3 [weiblich konnotiert]:

Für mich ist es zum Beispiel immer selbstverständlich gewesen, dass meine Mama voll berufstätig gewesen ist und ich schon mit einem Jahr in einem Kindergarten gewesen bin.

Befragte:r 4 [weiblich konnotiert]:

Dass die Westdeutschen viel, viel selbstbewusster sind als die Ostdeutschen.

Befragte:r 5 [männlich konnotiert]:

Ich glaube, dass die Menschen in Ostdeutschland etwas benachteiligt worden sind in den letzten Jahrzehnten seit der Wiedervereinigung. Dass wir halt schlussendlich einfach weniger Geld verdienen. Die Regionen sind immer noch strukturschwächer.

[fröhliches, Upbeat Intro ertönt und läuft im Hintergrund weiter]

Anmoderation

Podcast-Host Kathrin Schön: Am 9. November 1989 fiel die Berliner Mauer. Deutschland war nicht mehr geteilt und Menschen aus Ostdeutschland konnten ganz einfach nach Westberlin reisen. Aber wie wurden eigentlich aus zwei Ländern eins? Was ist da passiert? Organisatorisch, gesellschaftlich, aber auch rechtlich? Darum geht es heute in dieser Folge von „Justice, Baby! – dem Podcast zu Recht und Gerechtigkeit“. Denn über 30 Jahre ist der Mauerfall jetzt her, und noch immer scheint es so, als gäbe es Unterschiede zwischen Ost und West. Wieso ist das eigentlich so? Was hat das mit unserem Recht zu tun und was können eigentlich auch wir heute immer noch für eine gerechte oder gerechtere Einheit tun? Darüber spreche ich gleich mit meinen Gästen Winfried Kluth von der Uni Halle/Wittenberg und Christian Bollert von detektor.fm und Wir sind der Osten. Mein Name ist Kathrin Schön, ich arbeite bei der Stiftung Forum Recht und sage Hallo aus unserem Pop-Up-Studio – diesmal in Leipzig.

[Intro blendet aus]

 

 

Wie wurde die Wiedervereinigung rechtlich geregelt? – Interview mit Jurist Winfried Kluth

Schön: Der 9. November ist das Datum, das den meisten von uns vielleicht im Kopf rumschwirrt, wenn wir an die Deutsche Einheit denken. Aber eigentlich war das nur der Auftakt für eine ganze Reihe an Gesprächen und Verhandlungen auf dem Weg zu einem neuen Miteinander. Einer neuen, ja oder halt auch nicht ganz so neuen, Verfassung. Schauen wir deswegen mal zurück in die 90er, auf den 31. August 1990. An dem Tag unterzeichneten Vertreter der Bundesrepublik Deutschland und der Deutschen Demokratischen Republik einen Vertrag über die Auflösung der DDR, ihren Beitritt zur Bundesrepublik und die Deutsche Einheit. Ein historisches Datum also, aber nicht alles ist damals wirklich glatt gelaufen. Mit der Unterschrift sind manche Besonderheiten des DRR-Rechts, die nicht so schlimm waren, in den Hintergrund gerückt. Genauso wie auch das Engagement von Bürgerinitiativen, die sich nach dem Fall der Mauer für eine neue gemeinsame Verfassung, aber auch für eine eigene, stark gemacht haben. Und was das für Folgen hatte, darüber spreche ich jetzt mit meinem ersten Gast: Professor Winfried Kluth. Er ist Jurist, Historiker und Experte für moderne Staatswissenschaft. An der Martin-Luther-Universität Halle/Wittenberg, forscht er unter anderem zur Deutschen Wiedervereinigung und Gerechtigkeit. Passt also super. Hallo Herr Kluth, herzlich willkommen und schön, dass Sie da sind!

Kluth: Ja, gerne!

Schön: In unserem Podcast geht es ja um Recht und Gerechtigkeit, Herr Kluth. Und wir fragen alle unsere Gäste zu Beginn eine Frage: was bedeutet für Sie ganz persönlich Gerechtigkeit?

Kluth: Für mich bedeutet Gerechtigkeit, dass jeder einzelne die angemessene Aufmerksamkeit durch den Staat, das Recht und die Gesellschaft erfährt. Das sofort aus der Menschenwürde, aus anderen Gesichtspunkten, aber wegen der Verschiedenheit der einzelnen Menschen, der einzelnen Lebenslagen würde es nicht ausreichen, alles über einen Kamm zu scheren. Und da kommt die Angemessenheit, und das ist eben die große Herausforderung für das Recht, aber auch für jeden Einzelnen von uns, wie situative Angemessenheit und auch Lebenssphären bezogene Angemessenheit aussieht.

Schön: Wir haben in diesem Podcast schon viel über Gerechtigkeit und Recht gesprochen und sind dabei immer auf strukturelle Ungerechtigkeiten, beziehungsweise besser Ungleichheiten, gestoßen. Heute wollen wir uns das Verhältnis von West- und Ostdeutschland genauer anschauen und über die Wiedervereinigung sprechen. Die ist ja jetzt schon über 30 Jahre her. Und ein Großteil unserer Hörerinnen und Hörer hat die Wende gar nicht selbst mitbekommen oder kann sich nicht mehr daran erinnern. Wenn ich den Begriff Wiedervereinigung höre, dann denke ich immer sofort an Bilder und Videos von der Friedlichen Revolution, den Montags-Demos und den Fall der Berliner Mauer. Wie kam es überhaupt dazu, dass aus der BRD und der DDR ein Staat geworden ist? Grenzen auf und dann los?

Kluth: Ja, es hatte eine Vorgeschichte, die unter anderem mit den Entwicklungen in Polen, mit Solidarnosc, der Politik der Perestroika, durch Gorbatschow zu tun hatte und dann mit der Bürgerbewegung in der DDR, aber auch in anderen östlichen Staaten. Und das ist auch ein sehr wichtiger Gesichtspunkt. Die Wiedervereinigung wurde aufgrund auch von bestimmten günstigen internationalen Rahmenbedingungen, durch die Bürgerbewegung der DDR ganz maßgeblich initiiert.

Schön: Als die Mauer fiel und ein Jahr später die Wiedervereinigung tatsächlich stattgefunden hat, wurde ein sogenannter Einigungsvertrag geschlossen. Das war sicherlich gar nicht so einfach, denn immerhin standen sich zwei politische Systeme gegenüber, zwei Wirtschaftssysteme und auch zwei Währungen. Was sollte in diesem Einigungsvertrag eigentlich alles geregelt werden?

Kluth: Ja, Sie haben ja sehr schön auf dieses Jahr hingewiesen. Das Jahr zwischen 1989, also dem Spätherbst, und 1990. Und dieses Jahr ist sehr wichtig, um zu verstehen, was damals passiert ist und wo auch die Probleme aus heutiger Sicht eben auch bestehen. Denn der Einigungsvertrag, genauso wie der 2 + 4 Vertrag, also mit den Siegermächten, das waren völkerrechtliche Verträge. Dort hat gewissermaßen zum letzten Mal die DDR mit der Bundesrepublik verhandelt, wie der Prozess der Wiedervereinigung rechtlich und auch dann tatsächlich ausgestaltet wurde. Und in diesem Jahr hat eine wichtige Veränderung stattgefunden, die ursprüngliche Vorstellung der Bürgerrechtsbewegung und auch in der Volkskammer war, dass man ein eigenes Modell der Staatlichkeit entwickelt, dass man eben auch neue Formen entwickelt und in der schönen eben Veränderung Wir sind das Volk zu Wir sind ein Volk kommt auch zum Ausdruck, wo diese ganze Entwicklung ein Stück weit gekippt ist. Nämlich von der Vorstellung, die es zunächst gab, für die DDR eine neue demokratische Verfassung zu erarbeiten, die die DDR-Verfassung ersetzen sollte bis hin zur Übernahme des Grundgesetzes für das gesamte dann geeinte Deutsche Staatsgebiet. Und der Einigungsvertrag war praktisch schon die Antwort auf diese zweite Etappe, dass man gesagt hat, wir machen also jetzt mit Blick auf die Deutsche Verfassung das Grundgesetz von der Möglichkeit des Beitritts gebrauch. Hier muss man jetzt, auch wenn es ein bisschen unübersichtlich wird, sehen, das Grundgesetz hat immer in seiner ursprünglichen Fassung drei Aussagen zu dem Thema gehabt. Nämlich in der Präambel war das Ziel der Wiedervereinigung abstrakt umschrieben und in der Verfassung gab es die Möglichkeit des Beitritts, also der Übernahme des Grundgesetzes für die nicht ursprünglich beteiligten westlichen Besatzungszonen, und es gab die Möglichkeit einer neuen Verfassungsgebung, Artikel 146, das haben wir heute auch noch. Und der Fokus der Bürgerrechtsbewegung war dieser zweite Weg für das geeinte Deutschland, eine neue Verfassung. Und in der Realität ist es dann gewissermaßen beim Beitritt, also bei der Erstreckung der Geltung des Grundgesetzes, auch auf die, wie wir so schön sagen, die neuen Länder geblieben. Und das war aus der Sicht der Bürgerrechtsbewegung eine Enttäuschung, über die wir auch bis heute ja immer diskutieren.

Schön: Wieso hat man sich damals denn gegen eine neue Verfassung entschieden und für den, na, vielleicht etwas pragmatischeren Weg des Beitritts? Oder ging es da überhaupt um Pragmatik?

Kluth: Ja, es ging tatsächlich um Pragmatik und um Zeitfenster. Wir müssen uns daran erinnern, dass die internationale Lage nicht so war, dass alle erfreut waren, wieder das große Deutschland zu sehen. Die Vereinigten Staaten waren dafür offen, aber Großbritannien und Frankreich waren sehr kritisch. Und deswegen musste aus dieser international rechtlichen Perspektive die Bundesregierung dieses Zeitfenster nutzen, weil eine neue Verfassung sehr viel länger gedauert hätte. Die klare Strategie der Bundesregierung war damals, mit dem bewährten und international anerkannten Grundgesetz die Wiedervereinigung durchzuführen und schnell die Zustimmung, also den 2 + 4 Vertrag, das waren ja zwei Verträge nach innen und nach außen und dann auch die Friedensverträge mit Polen und anderen Nachbarstaaten zu bekommen und der ökonomische Aspekt die Einführung der D-Mark war dann die pragmatische Seite auf der Ebene der Wirtschaft.

Schön: Wie haben die verschiedenen Seiten darauf reagiert? Insbesondere die Bürgerinnen und Bürger in der ehemaligen DDR? Die hatten sich engagiert für eine Reform, für einen Systemwechsel, in der Hoffnung, selbst mitgestalten zu können und wurden dann enttäuscht.

Kluth: Diese Enttäuschung und die weitergehende Erwartung spiegelt sich auch im Einigungsvertrag wider. Der Einigungsvertrag, das sage ich meinen Studenten immer, war die letzte Situation, wo die Bundesrepublik und die DDR auf Augenhöhe waren, also weil es ja ein völkerrechtlicher Vertrag war und gleiche zwei Staaten miteinander verhandelt, auch politisch etwas aushandeln konnten. Danach waren die neuen Bundesländer eben in der Minderheit, einfach von der Zahl der repräsentierten Bürgerinnen und Bürger. Und da konnte man sich dann auch nicht mehr durchsetzen. Die Bürgerrechtsbewegung ist ja dann gewissermaßen geschluckt worden von den etablierten Parteien. Und die etablierten Parteien waren immer so basisdemokratisch kritisch.
Was bei der Bürgerrechtsbewegung anders war, die mehr direktdemokratische Elemente wollte, die mehr Innovation wollte. Die dann entstandenen Verfassungen der neuen Länder sind auch sehr viel moderner als das, was wir teilweise in den Landesverfassungen und auch im Grundgesetz haben. Allerdings auch, da muss man dann immer wieder ehrlich sein, mit Ausnahme unter anderem der Bayerischen Verfassung. Wir denken ja immer Bayern ist eher konservativ. Bayern ist das Bundesland, wo direktdemokratische Elemente die größte Breite und Tiefe vor allem auf der kommunalen Ebene haben.

Schön: Jetzt gab es in der DDR ja auch Gesetzbücher und Gesetze, die im Vergleich zu denen in der damaligen BRD auch recht fortschrittlich waren. Ich denke da zum Beispiel an das Familienrecht. Was ist denn mit denen passiert?

Kluth: Dieser Prozess, den dann der Einigungsvertrag gesteuert hat, hat dazu geführt, dass manche Dinge in die Zuständigkeit des Bundesgesetzgebers fielen, also wenn Sie Familienrecht und sowas ansprechen. Dort können wir tatsächlich teilweise Anstöße eben sehen. Also ein sehr bekannter Anstoß war ja eine neue Debatte über das Abtreibungsstrafrecht. Das ist durch die Wiedervereinigung, wie wir heute sagen, liberalisiert worden. Auch im Familienrecht und in anderen Bereichen hat es durchaus mit begrenzter Reichweite solche Anstöße gegeben, die man aufgegriffen hat und auch in anderen Bereichen, also im Schulrecht und so weiter, gab es durchaus Dinge, an die man angeknüpft hat. Im Wesentlichen hat man dann aber tatsächlich, also ich sag mal 90% das Recht aus der Bundesrepublik beziehungsweise auf der Landesebene der Partnerländer übernommen.
Und der Einigungsvertrag ist eine riesige Leistung des Rechtstransfers, weil man ja für jedes einzelne Gesetz klären musste im Einigungsvertrag, wie ist der Übergangsprozess zum Beispiel bei beruflichen Qualifikationen. Die DDR hatte ein System der Ausbildung, der beruflichen Bildung, das mehr oder weniger konkret an den bestehenden Betriebsstrukturen orientiert war und sehr kleinteilig war. Die Bundesrepublik hatte ein sehr allgemeines abstraktes System und die zusammenzuführen hat viele Jahre gedauert und auch zu vielen Verwerfungen geführt. Da gibt es auch eine aus meiner Sicht bedeutsame Anekdote, dass erst nach 9 bis 10 Jahren das Bundesverwaltungsgericht auf den Tisch hauen musste und den Behörden und den Verwaltungsgerichten gesagt hat, ihr seid ja auf dem falschen Dampfer, ihr legt viel zu strenge Maßstäbe für die Anerkennung von Berufsqualifikationen an. Und da gibt es eben eine ganz wichtige Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, die sehr viel mehr, aus meiner Sicht, für Gerechtigkeit gesorgt hat, weil man aufgrund der Kleinteiligkeit sehr großzügig sein musste, um die Systeme eben zu vereinen.

Schön: Haben Sie noch andere Beispiele, von ich sage mal Alltagsfragen, die rechtlich geregelt werden mussten durch die Wiedervereinigung?

Kluth: Also da könnten wir jetzt einen ganzen Tag drüber sprechen. [lacht]

Schön: Einen ganzen Podcast drüber machen. [lacht]

Kluth: Es gab in der DDR zwar ein relativ modernes Zivilgesetzbuch, das war aber nicht passgenau mit dem Deutschen BGB und da gibt es jetzt zu ganz vielen Punkten Dinge, die in der, also im Einigungsvertrag und danach überführt werden mussten, und wir mussten viele Dinge nachholen, zum Beispiel die Rückgabe von Grundstücken noch aus der Zeit des Nationalsozialismus. Es war also ein ganz enormer Prozess, der ganz viele verschiedene Lebensbereiche betroffen hat.

Schön: Gibt es denn in Artikel 146 Grundgesetz jetzt noch die Möglichkeit, eine gemeinsame Verfassung zu entwickeln? Und halten Sie das für realistisch? Wäre das vielleicht langfristig die gerechte Vision für die Zukunft der nächsten Generation?

Kluth: Ja, es gibt tatsächlich einige wenige Rechtswissenschaftler, die sagen, der 146 hatte nur einen Geltungsanspruch im unmittelbaren Zeitpunkt der Herstellung der Deutschen Einheit. Die ganz herrschende Meinung ist aber, das könnten wir auch heute machen. Und hier müssen wir jetzt über die Frage sprechen, was ist ein angemessener Zeitpunkt für eine Verfassungsneugebung? Und da haben wir ja…- also wir haben die Möglichkeit der Verfassungsänderung, dass man einzelne Teile der Verfassung ändert und eine Verfassung von Grund auf neu zu machen, setzt ja auch einen entsprechenden Anlass und eine entsprechende Vision voraus. Also ich persönlich habe es sehr bedauert, dass man die Wiedervereinigung nicht genutzt hat, um den Weg des Artikel 146 zu beschreiten.
Wenn wir darüber heute sprechen, müssen wir uns auch im Klaren darüber sein, dass wir im Augenblick, auch wenn wir die Länderverfassungen nehmen, in so vielen Punkten Einvernehmen haben, dass man sich dann fragen muss, was wollen wir eigentlich grundlegend Neues beschaffen?
Wir haben ja auch als zweiten Punkt die Europäische Union. Im Primärrecht der Europäischen Union sind auch so viele grundlegende Dinge für uns verbindlich festgelegt, die wir auch für richtig halten. Also hohe Standards beim Schutz der Grundrechte und der Menschenrechte, hohe Standards im Umweltschutz, hohe Standards was die Marktfreiheiten angeht. Da muss man sich dann schon wirklich sehr viele Gedanken machen, wohin die Reise gehen soll mit einer neuen Verfassung, also was dort wirklich neu ist. Und insofern kann ich auch die Kollegen verstehen, die sagen, wir brauchen auch eine entsprechende Situation. Und diese Situation wäre 1990 tatsächlich da gewesen. Ich glaube, im Augenblick, bei dieser schwierigen Weltlage wäre die Verunsicherung im Inneren und auch im außenpolitischen Bereich so groß, dass ich das niemandem raten würde, jetzt in dieser Weltlage eine Verfassungsneugebung auf den Weg zu bringen.

Schön: Sie haben eben erklärt wie mithilfe eines völkerrechtlichen Vertrags aus zwei Staaten einer wurde. Im geeinten Deutschland galten und gelten heute in Rostock und Chemnitz die gleichen Bundesgesetze wie in Bremen und Augsburg. Trotzdem gibt es bis heute hier strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West, die zu Unzufriedenheit und Chancenungleichheit führen. Wie erklären Sie sich das?

Kluth: Dafür gibt es viele Anlässe. Also zum Beispiel, wenn ich bei meinem Ansatzpunkt der Aufmerksamkeit bleibe, dass viele Dinge so schleppend umgesetzt worden sind, also berufliche Anerkennung von Qualifikationen. Wir haben viele Schließungen, wenn es einem Unternehmen schlecht geht, dass zunächst in den neuen Bundesländern, die eben hinzu gekauften oder erworbenen Dependancen geschlossen werden, und das ändert sich nur langsam. Also ein kleines Beispiel: die meisten Porsche Fahrzeuge werden in Leipzig gebaut, nicht in Stuttgart. Aber natürlich Porsche sitzt in Stuttgart und in Wolfsburg, also weil das ja zu VW gehört, und da fließen auch die Steuern und das ist ein Problem, was man jetzt auch nicht einfach wieder rückgängig machen kann. Weil also ich nenne das immer die volkswirtschaftliche Perspektive. Man hat vieles mit dem Blickwinkel gemacht, wir machen Ausgleich durch Geldtransfers, es ist aber ein Unterschied, ob die Menschen ein Geldtransfer bekommen oder ob sie die Dinge, die sie mit aufgebaut haben, fortgeführt sehen. Und das hat man sehr stark unterschätzt und da sind auch viele und schwerwiegende Fehler gemacht worden, weil man sich zu wenig in die Lage der Menschen hineinversetzt hat und immer nur eben deswegen die volkswirtschaftliche Perspektive überlegt hat, was führt zu guten Bilanzen der Wirtschaftsentwicklung und zu anderen Dingen. Und das sehen wir heute mit sehr viel kritischeren und aufmerksameren Augen. Das ist eine Erblast der Zeit nach 1990, mit der wir noch länger zu tun haben, weil das eben auch in den Familien, in den betroffenen Familien noch von Generation zu Generation als Erzählung, als Erfahrung tradiert wird und auch berechtigt ist.

Schön: Lassen Sie uns noch einmal die Perspektive wechseln. Wir sprechen ja ganz oft von Ungleichheiten und einer Benachteiligung des Ostens gegenüber dem Westen. Aber es gibt doch sicherlich auch Dinge, die im Osten deutlich besser sind als im Westen?

Kluth: Ja, also die Kinderbetreuungsmöglichkeiten sind hier ganz klar besser. Auch die Eigenständigkeiten von Frauen, also in der Berufswelt, da haben wir hier eine andere Selbstverständlichkeit. Auch die Aufgabenverteilung in den Familien. Und wir haben natürlich auch sehr profitiert, also wir haben zum Beispiel als Universität hier in Halle einen ganz modernen Campus, um den uns viele westliche Universitäten, die auseinander bröckeln, beneiden. Das ist also zweifelsohne so. Wir haben hier tolles Weltkulturerbe mit denen wir auch heute wieder Leben und Arbeiten. Es ist letztendlich auch eine Vorstellung, dass man denkt im Westen ist alles besser, aber wenn man aus dem Westen kommt und hier nach Halle oder nach Leipzig kommt, dann denkt man, oh hier ist ja alles viel besser. Und was es hier alles an fantastischen historischen und gegenwärtigen auch infrastrukturellen Dingen gibt. Insofern ist es natürlich auch eine Frage von Vergleichsmöglichkeiten. Kennt man hier im Osten auch den Westen, kennt man also die Eifel, wo ich herkomme, wo es eben auch nicht besonders reich und reichhaltig ist? Das sind Bildungsprozesse, mit denen wir zu tun haben, und da gibt es ja auch verschiedene Sichtweisen, also die Beurteilungen gut, schlecht oder fortschrittlich oder rückschrittlich, sind ja in sich auch nochmal relativ.

Schön: Was bedeutet Einigungsgerechtigkeit in diesem Jahr noch? Ist es was, wo Sie sagen würden, gibt es noch einiges zu tun? Oder wo steht die Einheitsgerechtigkeit oder Gerechtigkeit und Einheit in diesem Jahr?

Kluth: Ja, ich denke, es gibt immer noch offene Themen. Wir sind ja auch jetzt dabei, viele Berufe und berufliche Fertigkeiten im Rahmen der Digitalisierung zu entwerten, dass wir sagen, das brauchen wir nicht mehr. Ich bin der Meinung, dass wir da ganz viel von lernen können, wenn wir uns auch kritisch mit diesen Prozessen auseinandersetzen, weil wir ja vor weiteren Transformationsprozessen stehen, die in anderen Themenfeldern stattfinden, aber mindestens genauso grundlegend sein werden. Und insofern ist meine Ansicht in der Wiedervereinigung oder in dem Prozess, den wir gemeinsam durchlaufen haben, hat es unglaublich viel Fortschritt gegeben und damit auch unheimlich viele Entfaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten für alle Beteiligten. Und das ist auch in dem Sinne gut und gerecht. Bei Gerechtigkeitsdebatten ist aber immer so, wenn man über Gerechtigkeit spricht, ist die Aufmerksamkeit für Ungerechtigkeiten größer als für den Fortschritt. Und deswegen gibt es auch Organisationen, die immer die Fortschritts-Indexe den Ungerechtigkeitsdebatte gegenüberstellen. Also wir haben einen enormen Fortschritt an Freiheit, eben Entfaltungsmöglichkeiten in den neuen Ländern, das ist auch teilweise sehr viel mehr Dynamik als es sie im vergleichbaren Zeitraum in den alten Ländern gegeben hat, das wird aber als selbstverständlich angesehen, und insofern müssen wir das immer mit in den Blick nehmen, wenn wir über die Ungerechtigkeiten sprechen.

Schön: Das sagt Winfried Kluth. Vielen Dank für das Gespräch!

Kluth: Gern geschehen!

[kurze musikalische Zwischensequenz]

Was muss nachgebessert werden, damit Ost und West die gleichen Chancen haben? – Interview mit Moderator und Initiator Christian Bollert

Schön: In dem Gespräch eben wurden immer wieder Paragraphen aus unserem Grundgesetz gedroppt, die für die Frage, wie es weiterging nach dem Fall der Mauer, superwichtig waren. Artikel 23 und 146, zwei Zahlen, zwei unterschiedliche Wege. Entweder, das war der Weg von Artikel 23, die DDR tritt dem Grundgesetz und der BRD so wie sie eben ist bei, oder, das war die Option von Artikel 146, BRD und DDR geben sich zusammen eine neue gemeinsame Verfassung. Genau die hätte West- und Ostdeutschen die Chance auf einen echten gemeinsamen Neubeginn garantiert. Naja, aber dass beide deutsche Staaten irgendwann mal wieder eins werden wollten, das stand zumindest für eine kurze Zeit sogar in beiden Verfassungen fest. Im Grundgesetz gleich zu Beginn in der Präambel, aber auch in der ersten Verfassung der DDR von 1949. Die galt zwar nur rund 20 Jahre und wurde verändert, aber hey, immerhin.
Den richtigen Weg für ein neues Miteinander zu finden, war damals aber gar nicht so leicht. Vor allem, weil es auch noch eine dritte Option gab, die im Raum stand – eine neue eigene Verfassung nur für die DDR. An der schmiedete eine Arbeitsgruppe des sogenannten Runden Tisches. Für den Entwurf der neuen Verfassung hatte sie sich damals Inspiration aus allen verschiedenen Ecken dieser Welt geholt, nicht nur bei der BRD, sondern auch bei den Verfassungen in Nicaragua und Spanien. Am 4. April 1990 wurde der Entwurf dann öffentlich vorgestellt, aber von der neu und vor allem ersten frei gewählten Volkskammer leider nicht weiter betrachtet.
Aber zurück in die Gegenwart. Wir haben 34 Jahre Grundgesetz und Artikel 3 besagt, vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Trotzdem gibt es noch immer zahlreiche Unterschiede zwischen Ost und West. Ist es zum Beispiel gerecht, dass Menschen aus Ostdeutschland schlechtere Startbedingungen haben als Menschen aus Bremen, NRW oder Bayern? Muss man rechtlich nachbessern, damit alle die gleichen Chancen haben? Genau das klären wir jetzt.
Mein nächster Gast ist Christian Bollert. Er ist nicht nur Journalist, Moderator, Mitbegründer und Geschäftsführer von Podcastradio detektor.fm, sondern auch Mitinitiator von Wir sind der Osten einer Initiative, die Menschen in und aus Ostdeutschland sichtbar macht.
Hallo Christian und schön, dass wir heute sprechen können!

Bollert: Hallo und schön, dass ich da sein darf!

Schön: Meine Hörerinnen und Hörer, die kennen das schon von mir, die Frage aller Fragen stelle ich allen meinen Gästen immer gleich zu Beginn jedes Interviews und das mache ich natürlich auch heute. Christian, was ist für dich ganz persönlich eigentlich gerecht?

Bollert: Das ist wirklich ja nicht so einfach zu beantworten, die Frage. Ich persönlich würde sagen, mir geht es vor allen Dingen darum, dass alle Menschen, wenn es wirklich gerecht ist, die gleichen Möglichkeiten, Chancen, Entwicklungspotenziale haben und dass sozusagen niemand irgendwie aus systemischen und sonstigen Gründen irgendwie nicht am selben Moment loslaufen darf wie andere. Und dass die Ausgangsposition für alle ähnlich ist. Und dann kann es gerne auch Unterschiede geben aus ganz verschiedenen Gründen, aber eben bitte nicht aus äußeren systemischen Gründen. Und ich glaube, wenn diese Basis da ist, das wäre gerecht. Klappt nur leider selten.

Schön:  In der heutigen Folge von „Justice, Baby!“ geht es ja um Einheit und Gerechtigkeit und wir hören bis heute in den Nachrichten, aber auch in wissenschaftlichen Studien, dass der Osten im Vergleich zum Westen in manchen Aspekten immer noch schlechter dasteht, zum Beispiel im Bereich der Löhne oder auch im Bereich der Arbeitslosigkeit und das über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung. Du selbst lebst in Leipzig und auch das Büro von detektor.fm ist ja genau dort. Was machen solche Bestandsaufnahmen mit dir? Also nimmst du den Unterschied zwischen Ost und West in deinem Alltag an mancher Stelle wahr? Und wenn ja, wo?

Bollert: Ich glaube, da muss man auch wieder so ein bisschen differenzieren. Also ich für mich persönlich nehme den Unterschied eigentlich gar nicht so stark wahr, weil ich in einer ziemlich privilegierten Situation bin. Wir produzieren Podcasts, ich bin relativ viel in Deutschland unterwegs. Für mich spielt das in meinem Alltag eigentlich nicht so eine große Rolle. Gleichzeitig sehe ich aber, dass wenn ich mit Menschen rede, die in anderen sozialen Umfeldern sind, aus meiner Familie, im Freundeskreis, im Bekanntenkreis, dass viele von ihnen das doch noch sehr, sehr deutlich wahrnehmen. Du hast ein paar Aspekte angesprochen, aber einen Aspekt, der auch bei mir immer wieder aufploppt von außen, ist die Frage nach den Eliten. Wer ist denn Rechtsanwalt? Wer ist denn Notar? Wer ist denn Intendant? Wer ist denn Richter? Und so weiter und sofort. Und da fällt schon auf, dass sehr viele Menschen…- oder an wen zahle ich meine Miete? Das hatten wir als Studierende in Leipzig, wir hatten so ein Trinkspiel, der erste, der seine Miete an einen Ostdeutschen überweist, kriegt ein Freirunde. Hat keiner geschafft, weil alle ihre Miete an die Ärztebank in Stuttgart, in München, in Hamburg oder in Frankfurt überwiesen haben. Und das ist schon…- das macht was mit den Leuten natürlich, wenn sie merken, ach krass, die Stadt gehört gar nicht uns, sondern Leuten aus anderen Regionen. Und ich glaube, das ist gar nicht unbedingt eine Frage von Ost und West, sondern dann sind wir wieder beim Thema Gerechtigkeit, wenn in Hamburg alle Leute ihre Miete nach München überweisen würden, würden sich auch vielleicht Leute fragen, irgendwas stimmt da nicht. Und das ist definitiv ein Punkt, der immer wieder zu Debatten und Diskussionen führt und natürlich auch Angleichung der Löhne, Angleichung der Renten und so. Da sind wir glaube ich auf einem guten Weg. Aber es führt natürlich trotzdem zu einer gefühlten Unsicherheit, weil die Leute ja trotzdem in anderen Bereichen wieder gleich viele oder teilweise sogar mehr Ausgaben haben für Wasser, für Abwasser, für Strom und so und oder auch für das Einkaufen. Dementsprechend ist das nach wie vor ein großes Thema, mit dem man sich auf jeden Fall auseinandersetzen sollte.

Schön: Im Grunde geht es ja so um eine Art von Glasdecke. Also gerade wenn du von Eliten sprichst, also. Hast du eine Vorstellung, wie das klappen könnte, das eben auch mehr Menschen mit einer Familienbiografie, die in Ostdeutschland beginnt oder wo eine Station in Ostdeutschland ist, genau in diese Positionen kommen können? Und wie man auch mit Versäumnissen der letzten 30 Jahre gut umgehen kann? Denn die Tatsache, dass viel Eigentum in der Hand von Menschen ist, die in Westdeutschland leben oder in nicht in Ostdeutschland leben, ich sage es mal so rum, weil wo die leben ist erstmal egal, das können wir gar nicht bei allen sagen, aber das sind ja verpasste Gelegenheiten aus der Vergangenheit. Kann man die dann einfach so ungeschehen machen oder was braucht es da aus deiner Sicht für Maßnahmen, um eine Kurskorrektur hinzubekommen?

Bollert: In einer idealen Welt wäre es so, dass auch in Ostdeutschland oder eigentlich in allen anderen Regionen alle Positionen und alle Rollen, die es so gibt in der Gesellschaft, so verteilt sind, wie sie auch anteilig in der Bevölkerung sind. Ich glaube, das ist eigentlich der zentrale Unterschied. Wenn halt nur 2% der Richterinnen und Richter oder Universitätsprofessoren und so in Ostdeutschland eine ostdeutsche Biografie haben, dann geht das nicht. Ich sage ja gar nicht, dass es 100% sein müssen, aber es müssen halt mindestens so viele sein, wie es anteilig Ostdeutsche an der Gesamtbevölkerung sind und das trifft ja eigentlich für alle sozialen Gruppen zu. Das heißt, da müsste man ansetzen. Wie man das genau macht, habe ich natürlich auch nicht die perfekte Lösung, aber ich glaube, man muss vor allen Dingen erst mal konstatieren, dass es so ist. Ich glaube, an dem Punkt sind wir gerade und dafür sensibilisieren, dass das in Zukunft irgendwie anders werden sollte.
Aber ich sehe natürlich auch, du hast das Wort ja auch genannt Eliten, dass Eliten sich auch nicht unbedingt dafür öffnen, diverser zu werden. Sondern ich habe ein sehr schönes Beispiel, wir müssen dadurch, dass wir dieses Podcast-Radio betreiben, relativ oft immer mal zum Notar. Und wirklich 90% der Notare mit denen ich bisher zu tun hatte kommen alle von derselben Universität in Bayern die offensichtlich Anfang der 90er erkannt hat hier Notarsitze im Osten, in Leipzig das ist irgendwie eine gute Sache und die jungen Leute, das sind auch alles Leute die an dieser Universität ihre Ausbildung gemacht haben, das heißt die Eliten verstärken sich selbst und die gucken eben nicht in Cottbus oder in Magdeburg nach neuen Notaren, sondern die holen sich wieder aus der bayerischen Universität ihren Nachwuchs und da muss man natürlich schon ansetzen und sagen, Leute, das könnte vielleicht problematisch sein.

Schön: Strukturelle Unterschiede sind ja das eine. Ich sage jetzt mal Haltung, Mentalität, Lebensart und auch gemachte Erfahrungen, das andere. Also ich selber bin nämlich im Südwesten Deutschlands groß geworden, und mir fällt auf, dass der Blick aus dem Westen auf den Osten, gerade wenn es um diese softeren Themen geht, ganz stark von Fremdzuschreibungen geprägt ist. Die Initiative Wir sind der Osten, die du zusammen mit Melanie Stein gegründet hast, die wirkt auf mich, als wollte sie genau diese Fremdzuschreibung auch ein Stück weit korrigieren. Aber ich würde jetzt gerne hören, was war denn für dich und für euch der Auslöser überhaupt diese Initiative zu gründen? Und was wollt ihr damit vor allem bewirken?

Bollert: Auslöser war ganz klar, dass kann man sagen, damals die Europawahl. Da hat mich Melanie Stein angerufen kurz danach, weil dann nämlich so ein bisschen auch gerade in den Medien die Ursachenforschung wieder losging. Und dann kam so dieses pauschale Argument, ja, die Ostdeutschen, das sind eh alles Nazis und Populisten, und die haben halt die Demokratie nicht verstanden und diese pauschale Verurteilung, die war uns einfach zu platt, weil die geht auch wieder an der Wirklichkeit vorbei, weil wieso oft im Leben, es ist kompliziert, es gibt diese einfachen Wahrheiten nicht. Und was ich erlebe in den Jahren, wo wir jetzt Wir sind der Osten machen und entwickelt haben, dass gerade die individuellen Erzählungen, wie war das bei dir, was hast du erlebt, wie ist es in deiner Familie, wie war das mit deinen Eltern, wie war das mit deinen Großeltern, dass das mittlerweile eine größere Aufmerksamkeit bekommt, dass auch viele Ostdeutsche mittlerweile offener über die problematischen Zeiten in den 90ern reden. Kati Witt zum Beispiel hat irgendwie in der taz, fand ich damals, ein sehr interessantes Interview gegeben, wo sie gesagt hat, sie hat mit ihren Eltern eigentlich 20, 30 Jahre fast nicht darüber geredet wie das war Anfang der 90er Jahre. Die hatte ja eine ganz andere Situation. Die war ein großer Weltstar und ihre Eltern saßen in Chemnitz in der Neubauwohnung und sie hat ihnen Geld geschickt und das war ihnen aber peinlich und unangenehm. Und aber darüber mal zu reden, weil in den 90ern ist natürlich in den ostdeutschen Bundesländern so wahnsinnig viel auf einmal passiert. Ich glaube das können sich Viele mit einer, ich sag mal Altbundesländer-Biografie eben dann doch nicht vorstellen. Arbeitsplatzverlust, Treuhand, neues Gesetz, System, neue Medien, alles wurde von heute auf Morgen auf den Kopf gestellt und dafür ein Verständnis zu entwickeln und eben nicht mit dem in logischerweise in den 90ern viel geführten Pauschaldebatten, war das jetzt eine Diktatur oder nicht? Was war mit der Stasi und so? Das sind alles richtige Debatten, aber die führen natürlich auch eine riesige abstrakte Makroebene und die persönlichen Geschichten der Leute sind ein bisschen untergegangen.
Das ist auch, was ich von vielen Ostdeutschen in den letzten Jahren immer wieder gehört habe. Es hat sich ja niemand für unsere Geschichte interessiert und es war doch nicht sozusagen alles dunkel und Stasi, sondern wir sind auch irgendwie an die Ostsee gefahren und haben irgendwie coole Partys gemacht. Das klingt jetzt im ersten Moment vielleicht ein bisschen banal, aber da geht es schon darum, um eine Wahrnehmung, um ein Stück, vielleicht auch ja Aufmerksamkeit und das ist in den ersten Jahren, glaube ich, einfach nach dem Mauerfall so ein bisschen zu kurz gekommen. Vielleicht auch logischerweise, das kann ich gar nicht einschätzen, aber auf jeden Fall ist es zu kurz gekommen und in den letzten 5, 6 Jahren hat es da definitiv einen Wandel gegeben und auch ein viel größeres Interesse. Und ich glaube auch, dass wir gerade insgesamt als Deutsche da so ein bisschen, ja vielleicht auch abgestumpft waren und irgendwie spätestens in den 2000ern dachten alle, ja wir wissen alles, wir wissen wie es war, wir müssen da jetzt nicht so groß drüber reden und da ist auch so ein bisschen auf beiden Seiten die Neugier verschwunden. Also ich kann mich erinnern in den 90ern sind alle meine Freunde ständig mit ihren Eltern irgendwie durch alle westdeutschen Städte gefahren und haben sich das irgendwie angeguckt. Das hat es übrigens andersrum nicht gegeben, muss man auch sagen. Also ganz viele Westdeutsche sind bis heute nur in Berlin gewesen und haben es noch nicht mal nach Leipzig, Dresden oder Rostock geschafft. Aber das ist irgendwann abgeflacht und ich habe das selber festgestellt, als ich im Ausland war, Franzosen, Italiener, Spanier, Engländer, die waren total interessiert und haben gefragt, wie war denn das, was hast denn du da erlebt, wie war das mit deinen Eltern und dieses Interesse, dieses gegenseitige Interesse, das war so ein bisschen weg. Und ich habe das Gefühl, dass diese persönlichen Geschichten wirklich dazu führen, dass die Leute auch mehr Verständnis haben.

Schön: Und genau diese persönlichen Geschichten finden ja Platz auf der Plattform Wir sind der Osten. Was ich daran total spannend finde, ist, dass ihr sagt, ihr vereint dort Biografien, die im Osten beginnen, die aktuell im Osten stattfinden oder passieren und reflektiert da so das Ankommen und das Weggehen. Ich wollte jetzt aber mal fragen, wie funktioniert die Plattform denn ganz konkret in der Praxis, also wie wird sie genutzt? Es ist auch so eine Art Agentur für neue, junge Stimmen aus dem Osten?

Bollert: Im Prinzip ist es vor allen Dingen, glaube ich, tatsächlich das letztere, dass wir einfach zeigen, dass Dreiviertel oder 80, 90%, kann man jetzt darüber diskutieren, wie hoch die Zahl ganz genau ist, aber der absolute Großteil der ostdeutschen Menschen ist für die Demokratie, möchte sich irgendwie nach vorne bewegen, freut sich darüber, in der Europäischen Union zu sein und steht auch irgendwie fest auf dem Boden des Grundgesetzes und macht auch geile Sachen und diesen Leuten ein Gesicht zu geben und eine Stimme zu geben und auch zu zeigen, dass die auch ganz unterschiedlich sind. Natürlich gibt es irgendwie Leute, die in Görlitz irgendwas machen und die sind vielleicht anders als die das in Leipzig machen oder auch nicht. Und dann gibt es aber auch irgendwo in Brandenburg, ich darf das sagen als Brandenburger, in Wiesenburg oder so Initiative, die da eben neues Dorfleben etablieren will mit Städtern und die da Dinge zusammenbringen, teilweise auch, die es so in anderen Flächenländern, ich sag jetzt mal Niedersachsen oder Schleswig-Holstein vielleicht noch nicht gibt. Die teilweise auch wirklich vorausdenken und neue Sachen ausprobieren. Und diesen ganz vielen verschiedenen Leuten eine Stimme zu geben, eine Sichtbarkeit zu geben, das ist das Ziel oder ein Ziel von Wir sind der Osten, ganz klar.
Und ich bin ehrlicherweise auch immer noch total baff, dass das so gut gelingt. Also wir kriegen wirklich sehr oft Anfragen von Medien, von Organisationen wie Parlamenten, gesellschaftlichen Organisationen, Stiftungen, Podcasteinladungen und so, weil es offenbar genau sowas gebraucht hat, nämlich zu zeigen, wie vielfältig die Menschen in ostdeutschen Bundesländern sind. Und auch das ist ja kein Geheimnis. Natürlich ist jemand, der in Mecklenburg wohnt, vielleicht vom Temperament oder vom Typ her sehr wahrscheinlich deutlich anders als jemand, der im Erzgebirge wohnt.

Schön: Wir haben gerade eben noch über die Ungerechtigkeitserfahrungen unmittelbar nach der Wiedervereinigung gesprochen. Bei den Personen, die ihr auf eurer Plattform vorstellt oder die sich selber vorstellen, spielt die Ungerechtigkeitserfahrung, die sie, ihre Familien, ihre Freunde oder Angehörigen in der unmittelbaren nach-Wendezeit gemacht haben, noch eine Rolle für das Selbstverständnis heute?

Bollert: Beim großen Teil glaube ich, tatsächlich ja. Es gibt aber auch genug Leute, die sagen, nö, für mich spielt das gar keine Rolle mehr, aber für meine Eltern vielleicht. Und ich merke, dass das auf jeden Fall und das ist jetzt natürlich ein bisschen gefährlich, weil ich jetzt ein bisschen pauschalisieren muss, aus diesen fast 5000 Leuten, die da ihre Biografie…- aber beim Großteil ist es schon so, dass da ein Resonanzboden ist, dass da eine gemeinsame Erfahrung ist, die man eben Anfang der 90er, Ende der 80er gemacht hat, die ja im Übrigen auch eine sehr positive ist. Also ich meine, wo hat es eine weltweite friedliche Revolution aus der Bevölkerung gegeben ohne Blutvergießen, natürlich auch mit viel Glück. Aber das ist ja auch wirklich historisch irgendwie einmalig. Und wenn ich Bilder sehe von 1989, kriege ich heute noch Gänsehaut bei bestimmten Momenten, weil ich so denke, krass, das haben irgendwie unsere Eltern und Großeltern hinbekommen, weil sie einfach jeden Montag mit einer Kerze auf die Straße gegangen sind. Natürlich auch nicht alle. Aber da gab es eben eine große Bewegung, die ganz offensichtlich für Fortschritt und Modernisierung gestanden hat, aber klar, danach sind eben auch viele Sachen passiert, die Leute verletzt haben, ja wo Hoffnungen zerstört worden sind, die vielleicht auch aus heutiger Perspektive nicht so wahnsinnig clever waren und das bleibt. Das ist einfach, glaube ich, so ein persönlicher Erfahrungsschatz, mit dem man irgendwie umgehen muss und der einfach anders ist, als wenn jemand in Stuttgart aufgewachsen ist. Das ist einfach so.
Ich hatte mal selbst als Podcaster eine Serie über Kinder, die am 9. November ‘89 geboren worden sind, und da gab es für mich so einen krassen Moment, da hat der Vater von einem der Protagonisten, die wohnten in Dortmund, hat gesagt, ja krass Mauerfall und so war total super, wir haben eine Flasche Sekt aufgemacht und am nächsten Tag bin ich wieder zur Arbeit gegangen. Und da war mir klar, ja stimmt das war cool und er hat auch gesagt, das war wie der Fußball-WM-Gewinn 1990, war ein geiler Abend. Aber für die Leute in den ostdeutschen Bundesländern, war am nächsten Tag nichts mehr so wie es vorher war, die hatten gar keine Arbeit mehr. Und da hat sich so viel für die geändert und die anderen sind halt einfach weitergegangen. Natürlich hat man irgendwie einen Soli gezahlt und so, den die Ostdeutschen ja auch gezahlt haben. Aber da gab es nicht so einen krassen Wechsel und das hat ganz, ganz viele Auswirkungen auf die Familien. Ich meine, ich kenne viele Leute, …- und das haben wir auch schon oft diskutiert in so meinem Freundes- und Bekanntenkreis, da waren die Eltern von, ich sag mal, Anfang ‘90 bis ‘93 auch mit ganz anderen Sachen beschäftigt. Da waren viele Kinder auch sich ein bisschen selbst überlassen und waren so, achso, was machen jetzt die Eltern und so. Andere haben das total genutzt, die waren gerade fertig mit dem Abi, die sind auf einmal in die Welt, die sind nach Australien, die sind nach New York und haben die Welt für sich entdeckt und sind heute irgendwelche großen Gründer oder wohnen in London oder machen sonst irgendwas. Also da gibt es auch ganz, ganz viele unterschiedliche Facetten dieser 90er Jahre. Aber am Ende haben sie alle denselben Auslöser, nämlich den Mauerfall. Und das macht schon was mit den Leuten und ich merke auch…- ich habe das ja ganz am Anfang gesagt, dass ich selbst privilegiert bin, aber dass gerade so diese Übersetzerfunktion sehr wichtig ist, weil viele Leute sich auf der einen Seite nicht ernst genommen fühlen und auf der anderen Seite sagen, was ist denn da los. Und irgendwie braucht es, glaube ich, Leute, und da sind viele Biografien, die wir auf unserer Seite haben, stehen da Pars pro Toto, die einfach zeigen, okay, das ist ein Weg. Und dann gibt es noch den und auch noch den.

Schön: Von der Erfahrung schmunzelt man auch und denkt, ja, krass cool, einfach nur cool. Eine Sache oder ein Problem, das ich sehe, wenn wir über Gerechtigkeit im Kontext der Wiedervereinigung sprechen, ist, dass wir eigentlich über Ungerechtigkeit sprechen und über Ungleichheit und Dinge, die uns trennen. Aber eigentlich müssten wir doch auch über Dinge sprechen, die uns einen, denn es ist ja die Wiedervereinigung. Ist das auch ein Thema, das dich umtreibt?

Bollert: Definitiv. Also das ist natürlich auch eine Frage, an der wir irgendwie die ganze Zeit arbeiten und die für alle, die bei der Initiative dabei sind, irgendwie eine große Rolle spielt. Nämlich, das habe ich auch ja schon ein bisschen angedeutet, der absolute Großteil ist ein Riesenfan von Deutschland, von der Wiedervereinigung. Der absolute Großteil hat eher davon profitiert von der Wiedervereinigung als irgendwie jetzt wirklich in der Gesamtschau irgendwie negative Erfahrungen gemacht. Aber eben auch und die muss man, glaube ich, ernst nehmen. Und der absolute Großteil möchte auch europäisch denken, sich weiterentwickeln, digitalisieren, neue Ideen entwickeln, die Gesellschaft voranbringen. Hier ist auch ein sehr starker progressiver Geist, der nach vorne führt und das ist ja, glaube ich, auch nicht ganz untypisch, wenn man sich wiederum anguckt in Leipzig, in Berlin, dass viele Leute auch gerade in diese Städte wollen, weil da so viel passiert und weil da so viel Bewegung ist und weil es irgendwie auch nach vorne geht. Dementsprechend ist das, glaube ich, gar nicht unbedingt ein Widerspruch.
Und natürlich ist es so, also da kann ich jetzt nur für mich persönlich sprechen, dass Wir sind der Osten eigentlich so ein bisschen paradoxerweise gegründet haben, damit es diese Initiative irgendwann nicht mehr braucht. Also das große Ziel ist ja, dass wir feststellen, dass unterschiedliche Herkünfte, egal in welcher Form und ich meine die ostdeutsche Biografie ist vielleicht eine davon, eine Rolle spielen sollten und am Ende zu einer gerechteren Gesellschaft führen könnten, wenn man sie berücksichtigt und wenn man eben nicht nur die eine Perspektive hat. Ich glaube, das haben wir in vielen gesellschaftlichen Debatten jetzt in den letzten Jahren irgendwie erlebt, dass es sehr bereichernd sein kann, wenn man nicht nur die eine Perspektive hat. Und das ist eigentlich das, glaube ich persönlich, dass das zentrale Ziel, einfach ein bisschen Wahrnehmung zu schaffen für verschiedene Perspektiven und dann festzustellen, dass das am Ende sehr, sehr bereichernd sein kann, wenn wir die auch wahrnehmen und dem auch einen gewissen Raum geben. Aber die grundsätzliche Richtung ist eigentlich ja total klar. Wir wollen uns irgendwie weiterentwickeln, wir wollen moderner werden, wir wollen uns irgendwie als Gesellschaft gerechter aufstellen, und ich glaube, dass da die ostdeutsche Perspektive einfach sehr, sehr hilfreich sein kann.

Schön: Das ist doch ein wunderschönes Schlusswort. Vielen Dank Christian Bollert für deine Zeit und für den Einblick in die Initiative Wir sind der Osten!

Bollert: Sehr, sehr gern!

[Einsatz Upbeat Podcast-Outro im Hintergrund]

Abmoderation & Credits

Schön: Was Christian Bollert gesagt hat stimmt mich nachdenklich. Und es erinnert mich an eine Diskussion von 2019, damals wurde im Bundestag tatsächlich schon mal über eine Quote für Ostdeutsche in Spitzenpositionen gestritten und abgestimmt. Die Idee wurde nicht umgesetzt, hält sich aber bis heute.
Tja, wie seht ihr das eigentlich? Denkt ihr, es braucht eine Quote für Ostdeutsche in Spitzenpositionen und was wisst ihr eigentlich über die Geschichten, Lebenswege und Ideen von Menschen, die aus Ostdeutschland kommen? Also ich meine so wirklich ohne Klischees. Und hättet ihr damals eigentlich auch gerne an einer neuen gemeinsamen Verfassung mitgeschrieben? Wenn ja, was wäre denn für euch anders, z.B. zwischen Ost und West oder in eurem Alltag? Schreibt uns bei Insta, Facebook oder ganz klassisch per E-Mail. Und wenn euch diese Folge gefallen hat, dann lasst auch gerne ein paar Herzen da und abonniert uns. Mein Name ist Kathrin Schön, das war’s für heute mit „Justice, Baby!“.
Und was soll ich sagen, bald ist es so weit und Staffel 1 von unserem Podcast-Projekt geht zu Ende. Bevor es aber so weit ist, werfen wir mit unserer letzten Folge in zwei Wochen einen Blick in den Spiegel. Wie stark ist unser Recht, wenn sich Menschen darüber hinwegsetzen. Ihr ahnt es schon, es geht um Krieg und Frieden. Ich freue mich, wenn wir in zwei Wochen in unseren Showdown rein hört und sage für heute erstmal ciao und bis zum nächsten Mal.

„Justice, Baby!“ ist ein Podcast der Stiftung Forum Recht.
Redaktion: Vanessa Mittmann und Kathrin Schön.
Juristische Beratung: Marie-Elisabeth Miersch.
Produktion: Axel Seyboth und Anna Kunzmann von L‘agence.
Kommunikation und Distribution: Silke Janßen, Franziska Walter, Romy Klemm, Sabine Faller und Hannah Schelly.

[Outro blendet aus]

Transkript: Felicia Stahnke

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#11 Geld: Schließen Steuern die Schere zwischen arm und reich?

Was hält einen Rechtsstaat eigentlich am Laufen?
Neben einer verlässlichen Gewaltenteilung, Frieden und engagierten Bürger:innen sind es vor allem auch eins: Steuergelder. Sobald wir etwas kaufen, werden Steuern fällig. 7 Prozent Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln, 19 Prozent bei anderen Waren und sogenannten Luxusartikeln. Und auch beim Lohn geht ein Anteil an den Staat, nämlich die Einkommenssteuer.


Während Deutschland im Vergleich zu anderen Europäischen Ländern zwar recht hohe Steuern erhebt, steigt parallel dazu die soziale Ungleichheit. Aber wieso eigentlich?
Das erforschen Wirtschaftsjurist:innen und Politikwissenschaftler:innen wie Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit und Martyna Linartas von ungleichheit.info. 

 

Mit ihnen spricht Podcast-Host Kathrin Schön über Steuergerechtigkeit, ein Grunderbe für alle und die Frage, wieso soziale Ungleichheit eine Gefahr für unsere Demokratie ist.

Ihr habt nach dieser Folge Lust auf einen Deep Dive zum Thema Steuergerechtigkeit?

💸 Bei der Bundeszentrale für politische Bildung findet ihr Daten und Fakten zum Thema Steuern in Deutschland: https://www.bpb.de/system/files/dokument_pdf/bpb_Spicker_28_Steuern_chronologisch_DINa4_web.pdf

⚖️Auf Ungleichheit.info zeigt Martyna Linartas wie Vermögen in Deutschland verteilt ist: https://ungleichheit.info/

👨‍⚖️Das Netzwerk Steuergerechtigkeit klärt über Steuern auf und berichtet über aktuelle Themen dazu: https://www.netzwerk-steuergerechtigkeit.de/

💰 Die Initiative Tax me now haben Menschen ins Leben gerufen, die ein hohes Erbe erwarten und es ungerecht finden, dass sie dafür vom Staat kaum zur Kasse gebeten werden. https://www.taxmenow.eu/

🧓Vor mehr als 50 Jahren wurde die Mehrwertsteuer eingeführt. Was das für die Menschen damals bedeutete, könnt ihr bei der bpb nachlesen: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/262186/seit-50-jahren-einschliesslich-mehrwertsteuer/

🦸 Movie Time! Robin Hood ist eigentlich ein Film über soziale Gerechtigkeit. Der Held stiehlt Geld von den Reichen und gibt es den Armen. Zufall? https://www.imdb.com/title/tt4532826/

🎒In verschiedenen Bundesländern wie z.B NRW und Sachsen gibt es Schul-Programme zum Thema Steuern und Finanzen: https://www.lsf.sachsen.de/finanzamt-macht-schule-5436.html

[Hier finden Sie das Transkript zum Download als PDF]

Justice, Baby! Der Podcast zu Recht und Gerechtigkeit
Transkript

Folge #11 Geld: Schließen Steuern die Schere zwischen arm und reich?


Szenischer Einstieg

[Der Podcast beginnt mit unterschiedlichen Stimmen.]

Befragte:r 1 [weiblich konnotiert]:

Ich finde, dass für die falschen Dinge zu viel bezahlt wird und für wichtige Dinge einfach zu wenig bezahlt wird. Stichwort Pflege.

Befragte:r 2 [männlich konnotiert]:

Dass unterschiedliche Arbeit sehr stark unterschiedlich bezahlt wird und eben auch zwischen den Geschlechtern der Unterschied viel zu groß ist, da dürfte ja kein Unterschied sein.

Befragte:r 3 [weiblich konnotiert]:

Die größte Ungerechtigkeit sehe ich darin, dass Familien benachteiligt werden. Ich kenne viele Leute, die Kinder haben und wo es wirklich sehr sehr, sehr knapp ist, während Verheiratete sehr gepimpert werden.

Befragte:r 4 [männlich konnotiert]:

Stichwort Erbschaftssteuer zum Beispiel. Finde ich nicht in Ordnung, dass das so gehandhabt wird und dass da so viel Geld bei den Reichen verbleibt.

[fröhliches, Upbeat Intro ertönt und läuft im Hintergrund weiter]

Anmoderation

Podcast-Host Kathrin Schön: Kennt ihr den Spruch: Über Geld spricht man nicht? Wir tun das heute trotzdem, denn über Geld sprechen ist wichtig. Geld hält einen Rechtsstaat am Laufen und wir zahlen alle dafür. Und zwar durch Steuern, die werden fällig, wenn wir Lohn oder Gehalt bekommen oder sobald wir etwas kaufen. Obwohl wir in Deutschland im Vergleich zu anderen europäischen Ländern relativ hohe Steuerabgaben haben, steigt die soziale Ungleichheit und das hat Konsequenzen. Warum das so ist und was unser Steuerrecht damit zu tun hat, darüber spreche ich heute mit Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit und Martyna Linartas von Ungleichheit.info.
Ihr hört die neueste Folge von „Justice, Baby! dem Podcast zu Recht und Gerechtigkeit“. Mein Name ist Kathrin Schön, schön, dass ihr heute wieder dabei seid!

[Intro blendet aus]

Was ist Steuergerechtigkeit? – Interview mit Juristin Julia Jirmann

Schön: Sobald wir in Deutschland etwas kaufen, werden Steuern fällig. 7% Mehrwertsteuer bei Lebensmitteln, 19 bei zum Beispiel Büchern oder Luxusartikeln. Es gibt rund 40 verschiedene Steuerarten und die sind alle grundlegend in der Abgabenordnung geregelt. Das ist sowas wie das Steuergrundgesetz. Mit diesen Steuern finanziert der Staat seine Ausgaben für die Öffentlichkeit, also von Krankenhäusern über Schulen, Autobahnen und Fahrradwegen bis hin zu Sozial- und Hilfeleistungen. Regierungen können Steuern aber auch dafür nutzen, um die Wirtschaft zu beeinflussen, zum Beispiel wenn sie die Steuern senken, damit Menschen mehr Geld für gewisse Gegenstände ausgeben.
Aber seit wann gibt es unser Steuersystem eigentlich? Die Basis dafür wurde vor über 100 Jahren in der Weimarer Republik gelegt. Seitdem hat sich auch einiges getan. Nach dem Ende des Nationalsozialismus wurden viele Steuerreformen durchgeführt, um den Wiederaufbau nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu unterstützen und die Wirtschaft wieder anzukurbeln. Und mit der Gründung der Bundesrepublik 1949 wurde das Steuersystem dann wieder weiterentwickelt. Das hat man besonders bei der Einkommenssteuer gemerkt, denn die wurde seitdem immer der Höhe des Einkommens nach gestaffelt, um soziale Gerechtigkeit zu fördern.
Welche Rolle gerade die im deutschen Steuerrecht hat, das weiß niemand besser als mein nächster Gesprächsgast Julia Jirmann. Sie ist Juristin und Ökonomin und arbeitet für das Netzwerk Steuergerechtigkeit.
Ich spreche in dieser Podcast-Folge über ein brisantes Thema, von dem ich in meiner Kinderstube noch gelernt habe, dass man eigentlich nicht darüber spricht, Geld. Entweder, wenn man zu viel davon hat oder zu wenig. Herzlich willkommen, schön, dass du da bist.
Wir haben uns eben aufs Du geeinigt und Julia, ich stelle allen Gästen zu Beginn jeden Gesprächs ein und dieselbe Frage. Was ist für dich ganz persönlich gerecht?

Jirmann: Erstmal kann ich sagen, was nicht gerecht ist. Ich glaube, es geht nicht bei der Steuergerechtigkeit oder bei dem, was gerecht ist, darum, dass am Ende des Jahres jeder den gleichen Betrag an das Finanzamt überweist oder jeder den gleichen Betrag zum Gemeinwesen beisteuert. Sondern es geht vielmehr danach, dass wir alle nach unserer Leistungsfähigkeit einen Beitrag leisten und ich glaube, dahinter steht so ein bisschen dass auch, nicht nur, wer viel hat, kann auch einen höheren Anteil bezahlen, sondern dass jeder von uns an einer anderen Stelle im System steht und anders vom System profitiert. Und da gibt es den Unternehmer, der sehr stark von vielen Arbeitnehmern profitiert und von der Infrastruktur und dann am Ende vielleicht einen hohen Gewinn erwirtschaftet und davon dann auch einen größeren Beitrag leisten kann. Während beispielsweise der Krankenpfleger, der wiederum an einer anderen Stellen im System steht, weniger von Arbeitnehmern profitiert oder von der Infrastruktur, sondern eben in Nachtschichten einen sehr wichtigen Beitrag leistet, aber am Ende nicht so entlohnt wird. Und dann ist es gerecht, wenn wir nach der Leistungsfähigkeit und ein bisschen danach schauen, wer denn wieviel aus dem System zieht und da danach eben die Steuerlast berechnen und das wäre für mich gerecht.

Schön: Jetzt hast du gerade schon von dem System gesprochen und wir leben in Deutschland ja in einem Sozialstaat, das ist sogar verfassungsrechtlich geregelt. Artikel 20 Grundgesetz Absatz 1 da heißt es, die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Und damit Sozialleistungen, aber auch andere Formen von staatlichen Dienstleistungen finanziert werden können, braucht es ja Geld. Man hört jetzt in so mancher öffentlicher Debatte immer wieder, oh, in Deutschland da gibt es irgendwie total viele Steuern, Menschen werden total intensiv besteuert. Stimmt das überhaupt und wo stehen wir eigentlich im europäischen Vergleich?

Jirmann: Ja also, das kommt drauf an, welcher Mensch man ist und wo man und welche Einkommen man bezieht. Und da gibt es einen sehr großen Unterschied. Also im europäischen Vergleich. Und auch noch, sagen wir mal, man guckt immer so ein bisschen auf die OECD-Staaten, weil das so die westlichen Industrieländer sind. Und da steht Deutschland zum Beispiel relativ weit oben, nämlich an zweiter Stelle, bei der Höhe der Steuern und Abgaben auf Arbeitseinkommen. Wer also in Deutschland ein mittleres, niedriges Arbeitseinkommen bezieht, der wird im internationalen Vergleich relativ hoch belastet. Wir haben aber auch ein sehr gutes Sozialsystem, also wir profitieren auch davon. Es ist nicht so, dass es nur schlecht ist, dass wir da oben stehen, sondern in Deutschland bekommt man auch eine relativ gute Krankenversicherung dafür.
Wenn man jetzt allerdings nicht sein Einkommen aus Arbeit bezieht, sondern aus Vermögen, dann ist Deutschland ein absolutes Niedrigsteuerland, auch im europäischen und im OECD-Vergleich. Also kaum ein anderes westliches Land besteuert Vermögen und vermögensbezogene Einkünfte so niedrig wie Deutschland. Und das ist vielleicht nicht unbedingt gerecht und entspricht vor allem nicht der eigentlichen Leistungsfähigkeit, die wir eigentlich im Steuerrecht so zugrunde legen.

Schön: Wie muss ich mir das denn vorstellen, wie sieht ein vermögensbezogenes Einkommen eigentlich aus? Das klingt so abstrakt. Was bedeutet das?

Jirmann: Die Vermögen in Deutschland, die werden überhaupt nicht besteuert, was wir grundsätzlich als Vermögenssteuer bezeichnet. Also niemand muss am Ende des Jahres, nämlich seit 1990 nicht mehr, denn seitdem ist die Vermögensteuer ausgesetzt, am Ende des Jahres in der Steuererklärung angeben, wieviel Vermögen er besitzt und dann darauf im festen Betrag bezahlen. Das gibt es nicht mehr. Eine andere Vermögenssteuer ist zum Beispiel die Erbschaftssteuer. Die haben wir noch, aber die ist ausgehöhlt bis eigentlich vor allem bei den sehr großen Erbschaften davon nichts mehr übrigbleibt. Und dann gibt es natürlich noch, wenn ich Immobilien habe, die ich vermiete, dann fließen mir Mieterträge zu. Da gibt es in Deutschland auch sehr, sehr viele Privilegien, so dass sehr viel Geld in den Immobilienmarkt fließt, weil dort die Erträge relativ niedrig besteuert werden im Vergleich zu anderen Einkommen. Und dann haben wir natürlich also…- ein vermögensbezogenes Einkommen ist natürlich auch, wenn ich jetzt Aktien habe oder Kapitalerträge, dann werden die mit einer Kapitalertragsteuer belegt, und die ist pauschal, und die ist fix, und das ist auch zu einem gewissen Grad so in Ordnung. Allerdings gibt es dann wieder das Problem, dass Menschen, die sehr hohe Kapitalerträge haben, diese Steuer oft nicht zahlen, weil sie die nicht zahlen müssen, weil es da wieder Gestaltungsmöglichkeiten gibt.

Schön: Bei so vielen komplexen Regeln und Differenzierungsmöglichkeiten stellt sich schon auch die Frage, wie sinnvoll sind solche Steuern eigentlich? Und sind Steuern immer was Gutes oder sind die was Schlechtes?

Jirmann: Ja, also Steuern haben, glaube ich, kann man so runterbrechen, zwei wichtige Aufgaben. Also wir generieren Einnahmen damit, damit wir alle in die Infrastruktur, in die Daseinsvorsorge investieren können und wir haben auch gleichzeitig eine Schuldenbremse, die gilt. Das heißt, wir können nur bis zum gewissen Grad Schulden aufnehmen, das heißt, wir brauchen die Steuern als Einnahmen. Also wer gerne auf der Straße fährt oder wer gern ein Krankenhaus dahaben will, wenn er krank ist, der muss eigentlich für Steuern sein.
Und dann gibt es noch den zweiten Punkt. Wir haben eine extreme oder eine sehr starke Vermögensungleichheit in Deutschland und da haben die Steuern auch die Aufgabe, diese Extreme abzufangen. Also man kann sich das vielleicht ein bisschen vorstellen wie bei einem Monopoly Spiel, das kennen wir alle noch. Die ersten drei Würfe entscheiden, wer das Glück hat am Ende zu gewinnen. Die erste Runde macht Spaß, die zweite auch noch und die anderen 16 Runden guckt man nur noch zu, wie der eine die Bank leerräumt. Bei Monopoly gibt es kein Finanzamt, es gibt keine Korrektur, sondern das ist der ganz reine Kapitalismus. Und wir leben ja auch in einem kapitalistischen System und deswegen brauchen wir allein deshalb schon Steuern, um das zu korrigieren, weil wir diese Ungleichheiten irgendwie abfangen müssen und ausgleichen. Das kann der Markt nicht. Wenn wir jetzt im Sozialismus leben würden und ganz viel Staatseigentum hätten, dann bräuchten wir wenig Steuern. Aber das tun wir nicht. Deshalb müssen wir mit den Steuern so korrigieren. Also Steuern sind eigentlich etwas ganz, ganz wichtiges und die Grundlage für unser Zusammenleben.
Und leider ist es bei vielen Menschen, und das haben auch natürlich eine große Lobbyverbände mitgewirkt, dass das Bild entsteht, dass der Staat nicht mit dem Geld umgehen kann, dass Steuern etwas Schlechtes sind. Aber im Prinzip sind sie Grundlage für alles, was wir zusammen organisieren und machen.

Schön: Wie ist es dazu denn genau gekommen?

Jirmann: Also bei der Erbschaftssteuer, um das mal so runterzubrechen, hat es wirklich die Unternehmer-Lobby geschafft und ganz voran die Stiftung Familienunternehmen, die klingt wie der nette Handwerks-Bäcker-Club, vertritt aber die allergrößten Unternehmen, BMW und so weiter, die hat es geschafft, dass die Allgemeinheit denkt sie wäre negativ belastet, wenn wir diese Steuer einführen. Also dein Arbeitsplatz wäre in Gefahr, wenn der Unternehmer die Erbschaftssteuer zahlt. Also es wurde da über ganz viele Jahre tolle Arbeit, sozusagen aus der Sicht der Unternehmer-Lobby, geleistet, so dass sehr viele Menschen glauben, sie wären betroffen, auch von einer Vermögenssteuer. Gleichzeitig muss man bei der Erbschaftssteuer noch sagen, glaube ich, dass die meisten Menschen natürlich nicht genau wissen, was passiert, sondern das negative Gefühl der Erbschaftssteuer gegenüber kommt auch ein bisschen daher, dass man selber nicht so gern die Steuern zahlt, die man vielleicht für die Erbschaft, die man wahrscheinlich nie bekommt, weil die Menschen in Deutschland erben ja gar nichts. Also dass bei der Erbschaftssteuer noch so eine psychologische Komponente noch ein bisschen dazu kommt, dass der Staat da was will, obwohl jemand stirbt, dabei werden die großen Vermögen über Schenkungen übertragen zu Lebzeiten. Und genauso, da spielen verschiedene Sachen noch bei der Erbschaftssteuer, glaube ich, rein, die jetzt bei der Vermögensteuer jetzt nicht ganz so im Vordergrund stehen. Aber ja, voran wirksame Lobbyarbeit.

Schön: Was für Möglichkeiten hat man denn um das Steuersystem insgesamt gerechter zu machen und welche wären das denn aus deiner Sicht?

Jirmann: Ich glaube, dass es in Deutschland auf jeden Fall eine Möglichkeit gäbe, bei den mittleren und niedrigen Einkommen. Bei den Sozialabgaben beispielsweise, die auch diese nicht direkt steuern. Aber dass man die mittleren und niedrigen Einkommen entlastet und da muss man natürlich im Gegenzug bei den vermögensbezogenen Einkünften und bei denen die Vermögenssteuer wieder aktivieren, aber dass die Steuergerechtigkeit im Umkehrschluss nicht unbedingt heißt, dass wir nur mehr Einnahmen haben, sondern auch mittlere und niedrige Einkommensbezieher entlasten. Denn wir haben einen sehr, sehr großen Anteil an Menschen in Deutschland, die gar kein Vermögen haben, über ein Drittel in Deutschland hat kein Nettovermögen. Und diese Menschen können jetzt in der Krise nicht gut sich selbst in die Situation bringen, sich zu helfen. Deswegen müssen wir an allen Ecken und Enden mit irgendwelchen Zuschüssen arbeiten. Und wenn man diese Menschen entlastet und beim Vermögensaufbau unterstützt, also das wäre ein ganz wichtiger Punkt bei der Steuergerechtigkeit. Also dass man nicht nur, es geht nicht immer nur darum, dass sehr wenige, sehr viel haben, sondern auch, dass ein sehr großer Anteil eben nichts hat und sich dann deshalb auch nicht so gut in der Demokratie vertreten fühlt.

Schön: Wenn sich jemand jetzt aktiv engagieren möchte, für mehr Steuergerechtigkeit, an wen können Menschen sich dann wenden? Sind es dann auch Institutionen wie das Netzwerk Steuergerechtigkeit, für das du selbst arbeitest?

Jirmann: Genau. Also natürlich können sich Menschen an das Netzwerk Steuergerechtigkeit wenden. Es gibt mittlerweile ja noch auch zum Beispiel die Bürgerbewegung Finanzwende. Aber bei der Steuergerechtigkeit geht es vor allem auch, ich glaube darum, dass wir alle über das Thema sprechen, dass wir das Thema nicht als langweilig und eingestaubt begreifen, weil es eigentlich ein so grundsätzlich für unsere, für unseren Zusammenhalt und für unsere Gemeinschaft so wichtiges Thema ist.

Schön: Eine Frage, die ich habe, ist, gehört zu mehr Steuergerechtigkeit nicht eigentlich auch mehr Bildung über Steuerrecht?

Jirmann: Ja, das kann ich auf jeden Fall mit Ja beantworten. Ich bin da fest davon überzeugt, dass wenn alle Menschen das Steuersystem, was wir aktuell haben, verstehen würden, dann hätten wir ein anderes. Also das beruht auch darauf, dass der Wähler und dass die Menschen in unserem Land, die nicht Betriebswirte sind, nicht Steuerrechtler sind, das nicht verstehen alles. Also sonst hätten wir eine Vermögenssteuer, sonst hätten wir eine Erbschaftssteuer, die greift. Also davon bin ich ganz fest überzeugt, dass, wenn die Ausnahmen und wenn es nicht so viele Sonderregelungen für Vermögen und für Vermögende geben würde, dann hätten wir ein anderes Steuersystem. Und ich glaube, dass vielleicht auch das nicht schaden würde, natürlich in der Schule schon mal irgendwas zum Thema Steuererklärung und zum Thema Steuern…- also in meiner Schulzeit kann ich mich daran entweder nicht erinnern, weil es so uninteressant rübergebracht wurde oder es hat tatsächlich nicht stattgefunden. Aber ich kann mich gar nicht daran erinnern. Und ich glaube natürlich, dass Bildung da wie in allen Bereichen helfen kann.

Schön: Das ist ein hervorragendes Schlusswort. Vielen Dank, Julia Jirmann vom Netzwerk Steuergerechtigkeit.
Und wenn ihr jetzt mehr über das Thema Steuergerechtigkeit wissen wollt, dann schaut doch mal in unsere Shownotes.

[kurze musikalische Zwischensequenz]

Fun Facts – Top 3 kurioser Steuerarten

Schön: Das Steuerrecht in Deutschland ist eine komplexe Sammlung von Gesetzen, Vorschriften und Bestimmungen. Und dazu gehört auch eine ganze Reihe von verschiedenen, und ich würde mal sagen, kuriosen Steuerarten. [Registrierkassengeräusch] Wir haben hier mal unsere Top 3 der skurrilsten Highlights rausgesucht.
Die Biersteuer [Geräusch, das beim Öffnen einer Flasche entsteht], die gibt es schon seit dem Mittelalter. Damals war es so, dass das Braurecht und Braumonopol vor allem von großen Städten gehalten wurde. Die mussten dafür aber ordentlich blechen und zwar an ihren jeweiligen Landesherren. Die Biersteuer gibt es aber bis heute und sie landet auf Vorschlag des Freistaats Bayern nicht in der Bundeskasse, sondern in den Kassen der jeweiligen Bundesländer.
[Hundegebell erklingt] Wer sich einen bellenden Vierbeiner anschaffen will, der muss an seine Kommune Hundesteuer bezahlen. Und die kann je nach Hunderasse unterschiedlich hoch sein. Damit finanzieren Gemeinden zum Beispiel die Reinigungskosten und steuern, welche Hunde in welcher Anzahl, wo gehalten werden. Die weltweit erste Hundesteuer wurde vor circa 230 Jahren eingeführt, und zwar in Großbritannien.
[Schiffshorn erklingt] Dass Regierungen Steuern nutzen, um ihre Staatskasse zu füllen haben wir ja schon gehört. 1902 brauchte der Reichstag in Deutschland Geld, um die kaiserliche Kriegsflotte zu finanzieren. Die Lösung: eine Steuer für das damalige Trendgetränk Nummer 1: Schaumwein, auch bekannt als Champagner. Auch diese Steuer gibt es bis heute, sie dient aber nicht mehr zur Finanzierung der Bundeswehr, dafür müsste man wahrscheinlich auch ziemlich viele Korken knallen lassen.  

Wie ungleich geht es in Deutschland zu? – Interview mit Doktorandin Martyna Linartas

Schön: Kommen wir von kuriosen Steuern aber wieder zurück zur Frage dieser Podcast-Folge: schließen Steuern die Schere zwischen arm und reich? Mein nächster Gast hat dazu eine klare Meinung. Martyna Linartas ist Doktorandin an der FU Berlin, sie forscht dort zu Ungleichheiten in liberalen Demokratien und hat die Initiative Ungleichheit.info gegründet. Auf der gleichnamigen Website informiert sie darüber, welche Folgen die wachsende Ungleichheit in Deutschland für uns als Gesellschaft hat, aber auch wie man das mit anderen Steuersätzen ändern könnte.
Hallo Martina, schön, dass du da bist.

Linartas: Hallo, ich freu mich auch, danke.

Schön: Was ist für dich persönlich gerecht?

Linartas: Für mich ist persönlich gerecht direkt noch gekoppelt an die Frage von Demokratie, weil es einfach die Gesellschaftsform ist, in der ich lebe und leben möchte und da gehen für mich einige Gerechtigkeitsprinzipien auch einfach einher. Number One auf jeden Fall ist die demokratische Gleichheit. Wenn die nicht hergestellt ist, dann können wir auch nicht von demokratischen Gerechtigkeiten oder von einer Demokratie überhaupt sprechen.

Schön:  Was verstehst du unter demokratischer Gleichheit? Weil ich denke jetzt gerade an den Artikel 3 des Deutschen Grundgesetzes, da heißt es ja auch, alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. Ist es in unserer Gesellschaft genauso?

Linartas: Artikel 3 ist extrem wichtig, auch gerade in der Rechtsprechung, wenn es beispielsweise um Steuerpolitik geht, da wird dieser Artikel auch ganz heimlich bedient. Und er ist auch deswegen wichtig, es geht um das Prinzip der gleichberechtigten Teilhabe, die das auch ermöglicht, wenn alle eben wirklich vor dem Gesetz gleich sind oder eben auch in puncto Steuern und Vermögen zum Beispiel, gleichermaßen, und dann eben auch gerecht besteuert wird. Und nach John Rawls zum Beispiel, der spricht von demokratischer Gleichheit auch in dem Sinne, dass diese demokratische Gleichheit auch eine breite Streuung des Kapitals notwendig macht, damit Reichtum als Quelle politischer Macht versiegt.

Schön: Wie gleich ist denn die deutsche Gesellschaft? Was meinst du?

Linartas: Das kann ich ganz genau sagen [lacht]. Weil ich mich mit Ungleichheit befasse, das ist wirklich mein Themenschwerpunkt, meine Herzensangelegenheit. Deutschland ist, wenn es um Vermögensungleichheit geht, eine der ungleichsten Demokratien in der ganzen Welt. Und das ist den allermeisten Menschen nicht bewusst, weil wenn über Ungleichheit gesprochen wird, über Einkommensungleichheit geredet wird. Und es gibt ja diesen wunderbaren Gini-Index. Der läuft zwischen null und eins, wenn er bei 0,0 läge, dann hätten alle gleich viel, wenn er bei 1 wäre, dann hätte eine Person alles. Und nach Steuern und Transferleistungen ist er bei Einkommen bei 0,3, also näher an der null dran und das ist auch okay. Vor Steuern und Transferleistungen ist er bei 0,5. Das bedeutet allein schon Steuern und Transferleistungen in unserem System schaffen es 40% der Einkommensungleichheit zu reduzieren.
Aber die ganz große Ungleichheit, die auf die es wirklich ankommt, die ist bei den Vermögen und die Vermögensungleichheit in Deutschland ist extrem. Wir haben nach neusten Schätzungen einen Gini von 0,83 und damit nimmt Deutschland eine der Top Positionen in der Welt unter den Demokratien ein.

Schön: Wie kommt es denn zu dieser Ungleichheit? Was ist das Problem hinter diesen ungleich verteilten Ressourcen?

Linartas: Wie es jetzt dazu kommt, dazu gibt es sehr viel gute Forschung. Zum Beispiel hat Thomas Piketty aber auch Gabriel Zucman und Emmanuel Saez, das sind drei Ökonomen, die haben herausgearbeitet, es gibt auch deutsche Forscher:innen, die das herausgearbeitet haben, dass es vor allem darum ging, dass wir einen extremen Wandel in der Steuerpolitik hatten.
Also Steuern ist ja grundsätzlich erstmal so ein Thema, über das man nicht besonders gerne spricht. Steuern sind nicht sexy, sind langweilig, sind kompliziert und vor allem gehen sie einher mit diesem Narrativ, das Steuern eine Last sind. Und durch diese veränderte Wahrnehmung von Steuern als eine Last und aus in unserem, ich benutze das Modewort gleich mal zu Anfang, unserem Neoliberalismus, in unserem Wirtschaftparadigma, in unserem neoliberalen, kam es zu diesen Debatten, weil Steuern als Last empfunden wurden, als hemmend für Innovation, als nicht gut, sie würden Arbeitsplätze gefährden und so weiter und sofort. Ganz viele Märchen, ganz viele Narrative. Dadurch wurden die Steuern immer weiter gesenkt in den letzten Jahrzehnten und die Wissenschaftler:innen haben herausgearbeitet, dass das der Hauptgrund ist, warum die Ungleichheit gestiegen ist in Deutschland. Wir hatten mal sehr viel höhere Steuern sowohl auf Einkommen, aber vor allem auch auf Vermögen. Und diese Steuern, die wurden eben wirklich eingestampft, und zwar zu einem solchen Maße, dass die Ungleichheit einfach durch die Decke geht, aktuell. Die Schere wird immer größer.

Schön: Du hast ja die Initiative Ungleichheit.info gegründet, mit welchem Ziel?

Linartas: Genau, das aller höchste Ziel von Ungleichheit.info ist, überhaupt das Thema Ungleichheit in gesellschaftliche Debatten zu tragen. Weil Ungleichheit eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist. Aber, und das ist mir als Wissenschaftlerin extrem aufgefallen, wenn immer ich mit Freund:innen oder mit meiner Familie über Ungleichheit sprach, habe ich mich ständig dabei erwischt, wie ich Fachbegriff verwendet habe, von irgendwelchen Sachen gesprochen, wo die mir einfach nicht mehr folgen konnten, wo ich begriffen habe, okay krass, es gibt einfach kein Angebot, um sich mit Ungleichheit zu befassen, außerhalb des akademischen Elfenbeinturms. Und ganz wichtig Ungleichheit.info trägt einmal eben, wir nennen es, wertvolles Wissen zusammen, das heißt man kann sich auf der Webseite, bei Instagram oder Twitter schlau machen, was es gerade zu Ungleichheit gibt, entlang von Themen oder auf verschiedenen Medien. Also man sagt zum Beispiel, mich interessiert aber nur Fachliteratur oder mich interessiert nur Kunst oder eben nur Videos, nur Musik. Und es ist aber eben auch sehr wichtig, dass wir diese Übersetzungsarbeit leisten, also dass man das leicht versteht, dass man das vor allem auch, deswegen bin ich auch Luzie so dankbar, unsere Infografikdesignerin, die macht die wundervollen Grafiken, wo man dann so eine Grafik vor Augen hat und dann direkt erkennt, okay, so krass ist die Vermögensungleichheit, nur noch zwei Familien besitzen mehr Vermögen als die ärmere Hälfte der deutschen Bevölkerung? Wahnsinn!
Und so begreift man es sofort, ohne dass man sich ein Paper angucken muss oder irgendwie weiter in Debatte reingehen kann. Und das merke ich auch, dass dann wirklich auch zunehmend die Leute sich dafür interessieren und auch immer wieder Nachrichten reinkommen, okay, mir war das gar nicht bewusst, wie extrem eigentlich das Problem ist. Weil wenn man nicht erkennt, dass es ein Problem gibt, dann kann man ja auch keine Lösung danach suchen. Und es gibt aktuell so viele krumme, falsche Narrative, die auch nach wie vor kursieren, vor allem dieser neoliberalen Prägung, also zum Beispiel jeder ist seines Glückes Schmied, neoliberales Narrativ oder Steuern sind eine Last, auch neoliberal. Und damit wollen wir aufräumen, und zwar auf eine allgemeine und leicht verständliche Art und Weise.

Schön: Und tatsächlich auch erstmal Fakten basiert. Also dann, wenn man sich die Daten anschaut, ist die Frage, wie man sie interpretiert, eigentlich eine, die im zweiten Schritt gestellt wird. Und ihr wollt tatsächlich erstmal Wissensgrundlage schaffen. Wenn ich dich jetzt richtig verstanden habe.

Linartas: Unbedingt. Also auch bei mir, zum Beispiel an der Universität, ich gebe ein Seminar zu Ungleichheit, Theorie und Praxis heißt das dann tatsächlich auch. Es ist mir total wichtig, dass meine Studierenden auch verstehen, dass es nicht irgendwie darum geht, wie nehme ich jetzt emotional Ungleichheit wahr, finde ich das jetzt nur gut oder schlecht, sondern tatsächlich, es muss immer diese wissenschaftliche Basis und Grundlage geben. Damit wir auch wirklich wissen, okay, das ist jetzt der Boden, auf dem wir stehen, von dem aus wir uns umgucken können nach Lösungen für das Problem, aber er ist wirklich wissenschaftlich fundiert.

Schön: In Deutschland gibt es ja das Sozialstaatsprinzip, das auch im Grundgesetz Artikel 20 und 28 verankert ist. Das bedeutet, dass sich der Gesetzgeber um soziale Gerechtigkeit und die soziale Sicherheit seiner Bürger:innen kümmern muss. Eine wichtige Stellschraube ist dabei das Steuerrecht, darüber hast du gerade eben schon angefangen zu sprechen. Wie fair sind Lasten und Pflichten im Steuerrecht eigentlich verteilt?

Linartas: Das ist so eine wichtige Frage und ich finde es echt schade und ich hoffe wirklich, dass wir da nochmal einen Turn erleben, in einer nahestehenden Zeit. Steuern sind einfach das wichtigste demokratische Instrument überhaupt. Also ganz einfach, weil wir in einem kapitalistischen System leben, kann man nicht abstreiten, ist einfach so und im Kapitalismus akkumuliert eben Kapital. So, und wenn man da nicht der kapitalistischen Logik eine demokratische Logik entgegensetzt, und zwar in Form von Steuern, dass man wirklich dagegen ansteuert, das Kapital immer weiter akkumuliert und wir uns auch wirklich von unserer Demokratie entfernen und verabschieden, weil sie immer weiter ausgehöhlt wird, dann haben wir ein Problem. Was ich damit meine? Aktuell ist das Steuersystem so ausgelegt, also vor allem werden viele Steuern auf Einkommen erhoben und das auch schon relativ früh und auch der Spitzensteuersatz, der fängt auch schon früh an, was wir aber nicht tun, das ist Vermögen zu besteuern. Und ich habe ja gerade schon davon gesprochen, die allergrößte Ungleichheit, die ist nicht in puncto Einkommen, sondern in puncto Vermögen. Das heißt, wir müssten eigentlich, um der Ungleichheit entgegenzuwirken und um wirklich auch von Gerechtigkeit im System sprechen zu können, müssten wir Einkommen sehr viel niedriger besteuern, denn da sind wir tatsächlich ein Hochsteuerland. Und Vermögen sehr viel höher besteuern. Und das tun wir aber nicht. Das tun wir entlang aller wichtigen Steuern tatsächlich nicht. Sei es die Vermögensteuer, die wurde ausgesetzt, Ende der 90er Jahre. Sei es die Kapitalertragssteuer, die wurde flat gemacht, 2009 wurde sie von einem progressiven Satz auf flat 25 gemacht, was bedeutet, dass sie nicht mehr progressiv wird, progressiv in dem Sinne, je mehr man hat, nach dem Leistungsfähigkeitsprinzip auch, desto mehr sollte man auch stemmen, tun wir aber nicht mehr. Die Erbschaftssteuer, das ist auch die Steuer, zu der ich forsche, die ist so löchrig wie ein Schweizer Käse. Die ist komplett ausgehöhlt, die wirkt überhaupt nicht mehr als Instrument um überhaupt gegen die wachsende und extreme Ungleichheit anzugehen.

Schön: Schauen wir uns die Erbschaftsteuer doch mal genauer an. Was genau läuft eigentlich schief in Deutschland?

Linartas: Die Erbschaftssteuer, das ist ganz wichtig, dass man sie nicht nur versteht, um Einnahmen zu generieren, sondern auch tatsächlich gegen die Ungleichheit anzugehen. Und das tut sie aktuell nicht. Eigentlich ist die Erbschaftsteuer progressiv angelegt. Das heißt, je mehr man erbt, desto mehr sollte man auch zahlen an Steuern. Es gibt in Deutschland, das ist auch wichtig, drei verschiedene Steuerklassen, das heißt, es wird durchaus in Betracht gezogen, wie das familiäre Verhältnis ist. Also für die Kinder, für den Ehegatten zahlt man weniger hohe Erbschaftssteuer als für eine fremde Person. Und es gibt sehr hohe Freibeträge für Kinder, beispielsweise 400 000€, auf die zahlt man nichts, für den Ehegatten 500 000€ nichts und erst darüber geht die Erbschaftssteuer langsam los. [unverständlich] mit 7%, steigt dann langsam hoch.
Jetzt haben wir das Problem, dass die Erbschaftssteuer eigentlich wie gesagt progressiv wirken sollte, aber wie das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung beziehungsweise konkret Stefan Bach gezeigt hat, wirkt die Erbschaftssteuer ab 10 Millionen regressiv. Das heißt ähnlich des Matthäus-Prinzips, wer viel hat, dem wird weniger genommen. Es sollte eigentlich so sein, dass man dann mehr zahlt, tut man aber defacto nicht. Und der Grund hierfür ist tatsächlich, wie ich gerade schon angedeutet habe, dass die Erbschaftsteuer extrem löchrig ist, sehr viele Ausnahmen zulässt, vor allem wenn es um sehr Hochvermögende geht und um Betriebsvermögen geht. Es gab jetzt zuletzt eine sehr interessante Studie und die hat gezeigt, dass jährlich seit 2009, die allerhöchstens Steuersubventionen überhaupt die Erbschaftssteuern sind. Es ist jetzt nicht irgendwie einfach mal so paraphrasiert und dahingestellt, hey, wir subventionieren die Reichsten der Reichen, nein! Nach dem Subventionsbericht der Bundesregierung subventionieren wir aktuell in Deutschland die Reichsten der Reichen jährlich mit bis zu 10 Milliarden Euro. So dass wir mittlerweile seit 2009 alleine die Überreichen tatsächlich mit über 75 Milliarden Euro entlastet haben.
Und es ist einfach nur, wenn man sich die Zahlen anguckt, ich könnte dir jetzt noch ein paar weitere Beispiele nennen, was da alles passiert ist, verschiedene Fälle, wie damit umgegangen wurde. Matthias Döpfner zum Beispiel, der einfach mal eine Milliarde geschenkt bekommen hat. Eine Milliarde hat er gekriegt, weil er der Vorstandsvorsitzende der Axel Springer ist, eben, weil er nicht mit Friede Springer, der Witwe von Axel Springer verwandt ist, hätte er ja eigentlich auf diese eine Milliarde gemäß des Steuersatzes und weil das ja sehr viel ist, 500 Millionen Euro an Steuern zahlen müssen. Wegen all der Ausnahmen, die es aktuell im Gesetz gibt, zahlt er aber genau null. Weil er sich bedürftig rechnen lassen können. Und das ist total pervers. Unsere Erbschaftssteuer ist wirklich einfach löchrig.

Schön: Machen das andere Länder anders? Gibt’s da Beispiele im internationalen Vergleich, von denen Deutschland lernen könnte?

Linartas: Es gibt Länder, die haben höhere Steuersätze, es gibt auch Länder, die haben zum Beispiel nicht eine Erbanfallsteuer wie wir es haben, sondern eine, zum Beispiel in den USA, ist es eine Nachlasssteuer, es gibt durchaus verschiedene Modelle. So richtig hoch und progressiv ist die Erbschaftssteuer nirgends, dass sie wirklich funktionieren würde, so als richtig starkes Instrument. Da hilft es sogar noch eher als jetzt im Blick über den nationalen Tellerrand zu werfen, eher ein Blick in die Historie zu werfen, wie das früher gehandhabt wurde. Zum Beispiel auch in Deutschland oder eben auch in den USA direkt nach dem Zweiten Weltkrieg. Als besonders hohe Erbschaften mit zwischen 60 und 80, oder sogar zu Zeiten von Matthias Erzberger 1919, mit bis zu 90% besteuert wurden. Und aktuell wie gesagt…- also die Steuersätze sind nach dem Steuersatz selbst beinahe an der 30%. Der effektive Steuersatz, also wie viel wird insgesamt von dem, was an dich vererbt wird, liegt in Deutschland bei unter 3%. Also das ist nichts. Es werden jährlich 400 Milliarden Euro vererbt und effektiv besteuert [lacht] werden nicht einmal 3%. Also selbst die Raucher zahlen durch die Tabaksteuer mehr in die Staatskassen ein, als wir es durch die Erbschaftssteuer tun.

Schön: Wir sollten uns nochmal die Gesetze angucken, die das so eigentlich regeln. Wenn es so ungerecht zugeht und so ungleich, warum gibt es da keinen größeren Aufschrei? Und warum haben sich die Gesetze seit den 90er Jahren nicht mehr geändert?

Linartas: Es gab tatsächlich, ich würde sagen, in den gesellschaftspolitischen Debatten keinen großen Aufschrei. Es gab immer wieder mal die Diskussion, die aufgekommen ist, weil auch das Bundesverfassungsgericht und auch der Bundesfinanzhof, die Erbschaftssteuer gerügt haben oder auch als verfassungswidrig eingestuft haben. Es kam also durchaus zur Reform, aber diese Reformen wurden wieder zugunsten eben der Reichsten in der Gesellschaft entschieden, kann man leider nicht anders sagen. Also ‘92 wurde das Betriebsvermögen sehr privilegiert behandelt und daraufhin hat dann das Bundesverfassungsgericht 2006 das erste Mal gesagt, nee, so geht es schon mal nicht. Es kann nicht wirklich so privilegiert benutzt oder angewandt werden, das Erbschaftssteuerrecht. Auch nach Artikel 3 tatsächlich, das hatten wir ja auch eben gerade schon angeschnitten. Dann kam 2008 die Erbschaftsteuerreform [lacht], aber die wurde dann 2014 noch einmal gerügt von Bundesverfassungsgericht, woraufhin dann noch einmal eine Reform kam und zwar 2016. Es wurden jeweils ein paar Änderungen vorgenommen, aber tatsächlich wurden immer wieder dann auch Privilegien wieder reingemogelt für die aller Reichsten. Und da sind zum Beispiel auch Finanzverbände ganz stark, die auch sagen die Steuerprivilegien oder beziehungsweise die Lobbyarbeit des ganz großen Geldes. Und es wurden auch sehr viele Lügen einfach verbreitet. Also zum Beispiel wurde auch tatsächlich gesagt, naja, höhere Erbschaftsteuern würden ja Arbeitsplätze gefährden oder Omas Häuschen wäre weg. Das heißt, den Leuten wurde Angst gemacht. Und da gibt es auch eine sehr interessante Studie zu, unter anderem auch von Achim Truger mitverfasst, Why is it so difficult to tax the rich? Warum ist es denn so schwierig, die Reichen zu besteuern? Und eines der besonders wichtigen Ergebnisse war tatsächlich, dass die langanhaltenden Kommunikationsstrategien sind von den Lobbyisten des großen Geldes, die es eben schaffen, den Leuten das Gefühl zu geben, sie werden plötzlich diejenigen, die darunter leiden würden. Steuern, sind ja etwas Schlechtes und wenn wir hier jetzt was verändern, dann wirst du das Häuschen deiner Oma verlieren. Das ist Quatsch. Und es geht ja auch wirklich um die Multimillionen, um die Milliarden und auch zum Beispiel das Häuschen, das Familienheim, das ist geschützt, also solange es sich nicht um eine Villa von über 200 Quadratmeter handelt und wenn man in das Haus einzieht, zahlt man überhaupt keine Steuern darauf.

Schön: Jetzt hast du gerade eben schon tax the rich angesprochen. Es gibt ja tatsächlich Initiativen von Unternehmer:innen und Unternehmererb:innen, die von sich aus sagen, bitte besteuert uns mehr. Tax me now ist so eine Initiative. Sind diese Vorreiterinnen und Vorreiter in der Minderheit?

Linartas: Ich kann nicht genau sagen, ob sie in der Minderheit sind oder nicht, weil ich dazu einfach ehrlicherweise keine Daten vorliegen habe. Aber was auf jeden Fall stark und wichtig ist, ist zu sehen, dass eben nicht nach unseren, ich würde mal sagen wir auch dem marxistischen Verständnis, die Klasse bestimmt das Bewusstsein, dass man auch merkt, es kann auch durchaus bei den aller Reichsten unserer Gesellschaft ankommen, dass ihnen die demokratische Gesellschaftsform wichtiger ist als noch mehr Vermögen zu akkumulieren. Und das finde ich besonders stark und besonders wichtig. Also das Bewusstsein wird immer größer. Auch sehr reiche Menschen sagen, sie möchten nicht nochmal zurück in Zeiten des Feudalismus, wo es ja darauf ankommt in welche Familie man hineingeboren wird, sondern auch darauf, dass man sich selber hocharbeiten kann. Also wir sprechen in Deutschland zum Beispiel immer davon, dass wir eine Leistungsgesellschaft sind, aber es kommt ja zunehmend darauf an, ob du noch erbst und was deine Eltern verdienen. Und das finde ich sehr krass, weil mittlerweile mehr als die Hälfte aller Vermögen heutzutage nicht erarbeitet, sondern geerbt und geschenkt wird. Und wenn dann diese reichen Menschen sagen, hey, das ist schief, das passt überhaupt nicht in mein Verständnis von Demokratie, und es ist nicht so, wie ich gerne möchte, dass wir uns auch als Gesellschaft weiterentwickeln, dann finde ich das stark, und dann finde ich das wichtig.

Schön: Jetzt gibt es neben der Besteuerung von Vermögen und Wohlhabenden oder von Reichen ja auch noch andere Möglichkeiten für mehr Gerechtigkeit zu sorgen. In der Öffentlichkeit gibt es seit kurzem eine Debatte über ein Grunderbe. Was hältst du von dem Vorschlag?

Linartas: Ich finde es sowieso grundsätzlich wichtig, dass man, wenn man sich, naja insgesamt unsere Gesellschaft anguckt, man braucht immer mehr als nur ein Instrument. Also wenn du ein Haus baust, dann nimmst du auch mehr als den Hammer zur Hand. Und es sollte nicht nur darum gehen, irgendwie beispielsweise umzusteuern im Sinne von da oben wird dann auch endlich der faire Beitrag geleistet und was weggenommen, sondern man kann ja auch Vermögensbildung tatsächlich pushen und zwar aktiv auch aufbauen und da gibt es einige Vorschläge. Ich glaube auch das würde zum Beispiel die Erbschaftsteuer insgesamt und lediglich Reformen in der Gesellschaft sehr viel positiver dann konnotieren. Die Leute hätten dann auch eher ein Interesse daran, würden sich damit auseinandersetzen, würden sagen, ach ja, warum eigentlich nicht, finde ich auch wichtig. Denn das muss man sich vor Augen halten, 40% aller Deutschen haben überhaupt keine Ersparnisse, keine Vermögen aufgebaut. Und Vermögen bedeutet einfach nicht nur irgendwie, ich hab Geld und kann mir was Schönes kaufen, sondern es geht auch mit Macht einher und wenn man dann eben halt auch diese Machtfrage in der Gesellschaft besser adressieren möchte, dann sollte man auch Vermögen besser umverteilen und das kann man machen indem man umsteuert und umverteilt und zwar nach unten hin. Und es gibt Ideen, Grunderben, da gibt es einige, da geht es los mit 20, 30 000€. Piketty zum Beispiel spricht sich aus für, ich glaube, das sind 120 oder 125 000€. Anthony Atkinson, leider 2017 verstorben, aber das war so der Grand Father of Inequality, und der hat das Ganze für Großbritannien durchgerechnet. Und er hat auch gesagt, es sollte ein Grunderbe für alle geben und er argumentiert auch noch eine ganz andere interessante Art und Weise dafür, und zwar wenn man sich anguckt, wer ist denn von Armut betroffen, in Deutschland? Dann sind es vor allem auch viele Kinder. In Deutschland ist jedes fünfte Kind von Armut bedroht, jedes fünfte Kind in einem der reichsten Länder dieser Welt. Und wenn man einen Grunderbe etablieren würde, dann wäre auch diese Frage adressiert direkt.
Also ja, ich bin in jedem Fall für ein Grunderbe, sollten wir vielmehr darüber sprechen.

Schön:  Warum gibt es so wenige Menschen, die die Ungleichheit, die du bei Ungleichheit.info beschreibst, anprangern? Und was braucht es, damit sich mehr Menschen für Gleichheit engagieren?

Linartas: Dieses Narrativ: jeder ist seines Glückes Schmid, das legt ja auch nahe, dass du selbst dafür verantwortlich bist, in welcher Situation du dich befindest. Und ich will jetzt überhaupt nicht negieren, dass es natürlich auch mit Fleiß und Talent und Einsatz und so weiter geht, aber diese strukturellen Faktoren, die werden einfach ausgeblendet in dieser Erzählung. Und solange wir glauben, jeder ist seines eigenen Glückes Schmied, sehen wir auch eben nicht die strukturellen Probleme, die man auch angehen müsste. Und dass man auch Ungleichheit tatsächlich als ein politisches Phänomen versteht. Es ist nicht ein rein individuelles Problem, es ist auch nicht Gott gegeben, ist auch nicht natürlich, es ist politisch. Und diese Wahrnehmung von Ungleichheit als einem politischen Phänomen ist relativ neu.
Es kam ja auch erst überhaupt 2015 Ungleichheit in den Kanon der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen. Vorher wurde Ungleichheit immer nur als etwas geframet, was sogar teilweise von Neoliberalen als etwas Produktives, Notwendiges, Gutes sei für die Entwicklung eines Staates, weil dann nämlich auch der Druck erhöht würde, Innovation würde gefördert und es sei auch etwas, was wirklich nur auf individuelles Talent und individuelle Leistungen zurückzuführen sei. Und da wir jetzt diesen diskursiven Turn hatten, da wir jetzt Ungleichheit seit wenigen Jahren aber auch erst als ein politisches Phänomen adressieren können, als ein Politikum verstehen, können wir auch darüber reden, wie man Ungleichheit reduzieren kann.

Schön: Wer sich denn jetzt dafür engagieren möchten, wo können sich Menschen denn hin wenden? Wo können sich Menschen informieren, die Lust haben, mehr über Ungleichheit zu erfahren und wie kann man aktiv werden?

Linaratas: Also wenn es um einfach nur tatsächlich darum geht, sich schlau zu machen, dann kann ich wirklich unsere Seite empfehlen. Wenn man auch gucken kann, interessiert mich jetzt eigentlich die wirtschaftliche Ungleichheit, also Vermögen, Einkommen, Finanzen oder interessiert mich mehr das Klima oder Rassismus, kann man sich alles angucken, weil diese Form der Ungleichheit miteinander wirklich verschränkt sind, und das ist auch wichtig.
Es gibt durchaus verschiedene Initiativen und was ich aber vor allem stark und wichtig finde, ist, dass wir überhaupt anfangen, immer mehr auch uns aktiv zu beteiligen, sei es zum Beispiel auf Demonstrationen zu gehen. Wir haben jetzt gesehen, in England ist ganz groß geworden, wir Deutschen haben jetzt auch angefangen, genug ist genug zum Beispiel Demos. Oder wenn auch Demonstrationen gemacht werden von ich bin armutsbetroffen und so weiter. Also es gibt durchaus schon viele Initiativen. Und dann ist einfach wichtig zu zeigen, man ist nicht alleine. Dieser Individualismus, der auch im Neoliberalismus angeprangert wird, den aufzubrechen und zu sagen, ne, Margaret Thachter hat Quatsch erzählt als sie meinte, there is not such thing as society. Da ist eine Gesellschaft! Und wir haben Bock auf Gesellschaft und wir haben Bock auf Solidarität, und die zeigen wir auch! Und wir verstehen auch diese Verschränktheit, von dem Problem, sei es eben Rassismus, sei es aber auch krasse Klimakatastrophe, die ist auch direkt verschränkt mit Fragen von Ungleichheit. Man zeigt Gesicht, man zeigt, dass man sich dafür einsetzt. Und man geht zum Beispiel mit demonstrieren. Ja, das wäre eine Möglichkeit.

Schön: Jetzt wissen wir ja, dass Recht unser Leben gestaltet und auf ganz viele Arten und Weisen. Was wünscht du dir für die Zukunft, auch aus juristischer Perspektive, was wünscht du dir vom Gesetzgeber für eine Zukunft, die weniger ungleich ist?

Linartas: Vor allem vom Gesetzgeber wünsche ich mir, dass Artikel 20, das hattest du auch bereits angesprochen, Artikel 20 und Artikel 3 wieder höher gehalten werden, vor allem aber 20. Und das fand ich auch so stark beim letzten Mal als das Bundesverfassungsgericht die Erbschaftssteuerreform gerügt hat, haben die auch explizit darauf hingewiesen, dass es gerade in puncto Recht und auch Steuersystem darum geht, dass auch wir als Demokratie eine Verantwortung dafür haben, dass nicht zu extreme Vermögen sich bilden, dass zu viel Vermögen in Händen weniger kumuliert wird. Wir haben aktuell extrem viele Steuerprivilegien. Ich habe das Gefühl, dass sowieso gerade auch seitens des Finanzministeriums ganz viel Politik gemacht wird, nur für die aller Reichsten der Gesellschaft. Und ich wünsche mir einfach, dass wir insgesamt Steuern anfangen zu framen als das wichtigste demokratische Instrument, dass wir die Steuerprivilegien endlich kippen, denn es geht hier wirklich um große Milliarden Beträge. Und dass wir auch insgesamt einfach versuchen Steuerprivilegien wegzuhauen, Einkommensteuer die unteren Einkommen zu entlasten und nach oben hin dann auch höhere Beträge dann auch einzuführen.

Schön: Vielen Dank für das Gespräch, Martyna!

Linartas: Ich danke dir!

[Einsatz Upbeat Podcast-Outro im Hintergrund]

Abmoderation & Credits

Schön: Ich weiß nicht, wie es euch geht, aber ich habe bei der Redaktion von „Justice, Baby!“ von dieser Folge echt Lust bekommen, mich ein bisschen mehr mit Steuergerechtigkeit zu beschäftigen, auch wenn die Folge jetzt im Kasten ist. Wenn ihr das auch wollt, dann findet ihr in den Shownotes zur heutigen Folge ein paar Lese- und Filmtipps, coole Bildungsprogramme, die gerade interessant sind für Leute, die an Schulen arbeiten und natürlich auch Infos zu meinen Gästinnen von heute.
Wir haben in dieser Folge ehrlicherweise zwei eher kritische Stimmen zu Wort kommen lassen. Dass unser Steuerrecht ein Upgrade braucht, damit es einfacher und vor allem auch gerechter wird, darüber sind sich viele Juris:innenn und vor allem auch Politiker:innen unabhängig von ihrer politischen Überzeugung seit Jahren einig. Aber was heißt das denn, gerecht? Was meint ihr, wie fit seid ihr in Steuerfragen? Sollten Vermögen höher besteuert werden? Und wärt ihr bereit für den guten Zweck sogar mehr Steuern zu zahlen und vor allem warum oder warum nicht? Und was haltet ihr von der Idee eines Grunderbes? Schreibt uns bei Insta, X oder Facebook oder noch besser diskutiert darüber mit euren Freundinnen und Freunden. Wir sind gespannt auf eure Ideen.
Ich sage jetzt erstmal Tschüss, danke und schön, dass ihr in dieser Folge von „Justice, Baby!“ reingehört habt. Wenn es euch gefallen hat, sagt es gerne weiter, abonniert uns und hinterlasst eine Bewertung auf den gängigen Podcastplattformen. Mein Name ist Kathrin Schön von der Stiftung Forum Recht. Ich danke dem gesamten Podcast-Team und sage ciao und bis zum nächsten Mal.

„Justice, Baby!“ ist ein Podcast der Stiftung Forum Recht.
Redaktion: Andrea Wojtkowiak, Vanessa Mittmann und ich, Kathrin Schön.
Juristische Beratung: Karolina Hanisch.
Produktion: Axel Seyboth und Anna Kunzmann von L‘agence.
Kommunikation und Distribution: Silke Janßen, Franziska Walter, Romy Klemm, Sabine Faller und Hannah Schelly.

[Outro blendet aus]

Transkript: Felicia Stahnke

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#10 KI: Sind Algorithmen die besseren Richter:innen?

Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Aber auch Richter:innen sind nicht frei von Vorurteilen. Können Algorithmen das Rechtssystem gerechter machen und für mehr Fairness sorgen?

In Folge 10 von Justice, Baby! spricht Podcast-Host Kathrin Schön über künstliche Intelligenz im Gerichtssaal und die Regulierung von KI im Alltag. Künstliche Intelligenz begegnet uns nämlich nicht mehr nur bei Social Media, sondern kommt schon längst in verschiedenen Rechtsverfahren zum Einsatz: Ob im Steuerrecht, bei digitalen Vertrags-Baukasten-Systemen oder Legal Chat Bots. Der Einsatz dieser Technologien wirft Fragen auf: Welchen Stellenwert haben Gleichheit und Individualität? Und wie aussagekräftig sind die Daten, mit denen Künstliche Intelligenzen lernen?


Zu Gast sind Victoria Guijarro Santos, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Universität Münster https://www.jura.uni-muenster.de/de/institute/imr/team/weitere-personen/victoria-guijarro-santos/  und Lajla Fetic, Expertin für Tech Governance und Digitalpolitik bei der Bertelsmann Stiftung. https://lajlafetic.de

Außerdem geht es in dieser Folge auch um:

🏛️Faire Regeln für die Gestaltung algorithmischer Systeme: https://algorules.org/de/startseite

💁‍♀️Personalisierte Nachrichtensprecherinnen aus Kuwait https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/medien/ki-fuer-kuwait-news-virtuelle-sprecherin-liest-nachrichten-vor-18813107.html?xing_share=news

🏝️Radio Helgoland, den ersten KI-gesteuerten Radiosender:
https://www.radiohelgoland.de/

🚓Data Bias und Racial Profiling.
Wir empfehlen Euch dazu die Doku „Programmierte Ungerechtigkeit“ in der ZDF Mediathek, die noch bis zum 12.08.2024 online ist. https://www.zdf.de/dokumentation/digital-empire/algorithmus-ki-programmierung-vorurteile-diskriminierung-rassismus-social-media-100.html

🤖Roboter-Anwalte in den USA:
https://www.basicthinking.de/blog/2023/01/14/k-roboter-anwalt-gericht/

👾Und natürlich ChatGPT: Wie die KI dahinter genau funktioniert und die Regierung überfordert erfahrt ihr bei Golem: https://www.golem.de/news/kuenstliche-intelligenz-so-funktioniert-chatgpt-2302-171644.html und bei funk: https://www.zdf.de/funk/die-da-oben-12030/funk-chatgpt-so-ueberfordert-ist-die-regierung-102.html

[Das Trankript steht Ihnen hier zum Download als PDF bereit.]

Justice, Baby! Der Podcast zu Recht und Gerechtigkeit
Transkript

Folge #10 KI: Sind Algorithmen die besseren Richter:innen?


Szenischer Einstieg


[Tastatur-Geräusche im Hintergrund]

Podcast-Host Kathrin Schön: Hallo ChatGTP!

Computer-Stimme [weiblich konnotiert]: Hallo! Wie kann ich Ihnen heute helfen?

Schön: Schreibe mir eine Anmoderation für den Podcast „Justice, Baby!“. Das Thema: KI und Gerechtigkeit. Die Zielgruppe: Gen Y. Wir duzen unsere Hörer:innen. Haben zwei Gäste. So, Punkt. Bringe ein aktuelles Beispiel mit KI und Justiz. Und versuche kurze Sätze zu schreiben.

Computer-Stimme: Klar, kein Problem: Hi und herzlich Willkommen zur neuen Folge von „Justice, Baby!“, dem Podcast für Menschen, die sich für Recht und Gerechtigkeit interessieren. Wir haben heute zwei tolle Gästinnen dabei, die uns helfen werden, das Thema KI und Justiz zu beleuchten. Aber was hat KI eigentlich mit uns zu tun? Ganz einfach, KI wird immer mehr Teil unseres Lebens und beeinflusst auch die Gerichtsbarkeit. Wir wollen heute darüber sprechen, welche Auswirkungen das haben kann und wie wir sicherstellen können, dass wir auch in Zukunft fair behandelt werden.
Ein aktuelles Beispiel dafür ist das umstrittene Risikobewertungssystem Kompass, dass in den USA eingesetzt wird. Es wird behauptet, dass es unfaire Vorurteile verstärkt und somit die Ungleichheit in der Justiz verschärft. Aber ist das wirklich so? Das werden wir heute gemeinsam herausfinden.

[fröhliches, Upbeat Intro ertönt und läuft im Hintergrund weiter]

Anmoderation

Schön: Fragen über Fragen. Und eigentlich wäre ich jetzt ja überflüssig, aber ich hoffe, ihr habt ein bisschen mehr Spaß daran, mir zuzuhören als einer KI.
Man kommt an ChatGPT und der Diskussion über die Vor- und Nachteile, aber auch die Gefahren von Künstlicher Intelligenz ja gar nicht mehr vorbei. Deswegen nehmen wir heute mal die Möglichkeiten und den Einsatz von KI in der Justiz unter die Lupe und checken, wie die überhaupt geregelt ist. Dazu spreche ich mit Victoria Guijarro Santos von der Uni Münster und mit Lajla Fetic von der Bertelsmann Stiftung.
Mein Name ist Kathrin Schön, ihr hört „Justice, Baby! – den Podcast zu Recht und Gerechtigkeit“! Schön, dass ihr wieder rein hört.

[Intro blendet aus]

 

 

Kann Künstliche Intelligenz Gerichtsprozesse fairer machen? – Interview mit Rechtswissenschaftlerin Victoria Guijarro Santos

Schön: Vor dem Gesetz sind alle Menschen gleich. Aber in manchen Fällen ist der persönliche Eindruck vor Gericht bei einem Richterspruch das Zünglein an der Waage. Wird zum Beispiel Reue gezeigt oder war die Straftat bloß ein Ausrutscher? Bei der Bestimmung der Höhe vom Strafmaß können Richter:innen mildernde Umstände anerkennen. Dabei sind natürlich auch sie nicht frei von Vorurteilen. Also je nachdem, wo man eine Straftat in Deutschland begeht, kann es tatsächlich sein, dass das Urteil härter ausfällt als woanders. Wir haben dazu schon mal eine Folge gemacht. Wenn ihr mehr dazu wissen wollt, dann hört doch einfach mal bei Folge 2 zum Thema Strafe rein.
Aber nochmal zurück, wenn Richter:innen nicht ganz frei von Vorurteilen sind, könnten technische Innovationen dann vielleicht helfen, vergleichbarer und fairer zu urteilen? Das will ich jetzt von Victoria Guijarros Santos wissen. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Internationales Öffentliches Recht und Internationalen Menschenrechtsschutz an der Uni Münster und forscht dort zum Einsatz von KI in Entscheidungsverfahren.
Hallo Victoria, herzlich willkommen und schön, dass du da bist.

Guijarros Santos: Hallo, ich freu mich! [lacht]

Schön: Victoria, was ist für dich persönlich gerecht?

Guijarros Santos: Das ist eine sehr große Frage. [lacht] Wenn ich sie in Bezug auf Künstliche Intelligenz und Daten denke, dann wäre es für mich gerecht, dass wir in demokratischen Verfahren darüber entscheiden, wie wir mit Technologien leben wollen. Und nicht nur diejenigen, die zufällig Dateninfrastrukturen in ihren Händen halten und die benutzen, um ohnehin schon marginalisierte Personen noch weiter an den gesellschaftlichen Rand zu drücken.

Schön: Damit bist du direkt im Thema unserer heutigen Folge. Künstliche Intelligenz begegnet uns inzwischen ja echt überall in unserem Alltag. Also von, keine Ahnung, zielgerichteter Werbung auf Social Media, über Spracherkennungssoftware bis hin zu Chatbots oder unserer Spotify Playlist. Und das finde ich ganz schön krass, weil einerseits sollen mithilfe von KI, Angebote und Dienstleistungen besser auf die Bedürfnisse und Präferenzen von Nutzer:innen zugeschnitten werden. Und andererseits schwingt, wenn man über den Einsatz von KI nachdenkt oder spricht, also da wo Entscheidungen getroffen werden sollen, immer auch die Erwartungen mit, dass KI für mehr Neutralität und dadurch mehr Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen könnte. Aber geht das überhaupt? Kann eine KI, das überhaupt?

Guijarros Santos: Da würde man jetzt je nach Person ganz unterschiedliche Antworten bekommen. Google, Microsoft, Facebook würden einem natürlich erzählen, dass das geht. Und wenn man sich dann aber näher damit befasst und auch mal dahinterguckt, stellt man ziemlich schnell fest, dass das nicht funktioniert. Und ich glaube, dafür muss ich vielleicht ein paar Einschränkungen und ein bisschen mehr darüber sagen, was KI eigentlich ist und was ich jetzt hier auch im Podcast damit meine. Also zuerst einmal beschäftige ich mich mit Systemen, die Personen klassifizieren, die von Unternehmen entwickelt werden, damit andere Unternehmen oder der Staat, Personen klassifizieren können und danach ausgerichtet Güter, Dienstleistungen, Werbung oder Teilhabe allozieren. Und diese Systeme sind häufig Modelle maschinellen Lernens oder ganz einfache statistische Modelle häufig auch. Dann ist ganz entscheidend, dass diese Systeme auf Daten entwickelt werden. Und diese Daten kommen nicht aus dem Nichts, sondern irgendjemand anders, irgendein Unternehmen in den meisten Fällen, hat entschieden, dass wir diese bestimmten Daten generieren, dass wir die speichern, dass wir die labeln. Und entscheidet dann darüber, wie wir die benutzen, für wen und gegen wen wir die benutzen.
Und dieses Verständnis, dass Daten aus einem sozioökonomischen Prozess geleitet werden und dass die nicht aus dem Nichts kommen, dass ist total wichtig zu verstehen, weil man dann auch viel besser verstehen kann, dass allein schon die Frage, ob wir nur Daten über arme Personen haben, zum Beispiel jetzt im Bereich von Sozialleistungen, wo auch automatisierte Entscheidungsverfahren genutzt werden, dass das auch schon, den Grundstein dafür legt, dass man dann, wenn man Sozialbetrug aufdecken will, dass es dann häufig darum geht, Sozialbetrug unter armen Personen aufzudecken und nicht darum geht, Steuerbetrug unter reichen Personen aufzudecken.
Und jetzt in Bezug auf Amazon, zum Beispiel jetzt die Werbung, die uns da angezeigt wird, dass in den Fällen sind das eben die Daten aus unserer Realität und wenn unsere Realität von Geschlecht, race, Behinderung, von diesen Machtverhältnissen durchzogen ist und so wirkmächtig ist, dass sie auch unsere Präferenzen steuert, dann wird das in diesen Daten wiedergegeben und wenn wir dann die Modelle darauf trainieren, dann geben diese Modelle auch diese Herrschaftsverhältnisse wieder. Und deshalb ist diese ganze Idee, dass KI neutral wäre, dass sie fair wäre, dass sie objektiv wäre, von vornherein unsinnig. Und ein ganz großer PR-Gag eigentlich von diesen großen Datenunternehmen, die uns diese Modelle verkaufen wollen.

Schön: Die Gerechtigkeit, die Fairness, das Potenzial der KI steht und fällt mit den Daten, mit denen sie trainiert wird.

Guijarros Santos: Genau, aber nicht nur das. Und es ist nicht nur die Frage, welche Daten ich benutze. Sondern auch die Frage, was für Fragen stelle ich diesen Daten eigentlich. Also ich finde wirklich dieses Beispiel, von welche Straftaten wollen wir aufdecken, indem wir KI benutzen, glaube ich ganz anschaulich.
Und es ist auch ein Beispiel, was in den Niederlanden benutzt wurde oder auch genutzt wird, da gibt es ein algorithmisches System, das heißt SyRi, wie das iPhone nur mit einem Y, und da soll vorhergesagt werden, wer Sozialbetrug begeht. Also da sind schon ganz viele Fragen, die man sich stellen kann. Kann man überhaupt aus Daten und mit dem, was dieses Modell maschinellen Lernens erfassen kann aus den Daten, kann man damit überhaupt herausfinden, ob eine einzelne Person Sozialbetrug begeht? Weil das, was diese Modelle machen und das, was sie in den Daten finden wollen, sind Muster, und zwar Muster in diesen vergangenen Daten über eine große Masse an Personen. Und das wird dann verwendet, um über Individuen in der Gegenwart eine Einzelentscheidung zu treffen. Wo schon mal eine relativ große Lücke ist, zwischen dem also, was wir von diesem System wollen, und dem, was dieses System eigentlich kann.
Und gerade bei diesen Fragen mit Sozialbetrug kommt dann auch noch hinzu, dass es dann um Sachen geht, wie, man wird dann als Risiko geflaggt, wenn man diese tausenden Formulare, die man von der Behörde ausfüllen soll, wenn man da mal irgendwie so ein paar Fehler gemacht hat, dann ist es schon verdächtig. Und das ist natürlich noch mal viel prekärer, wenn man überlegt…- Also SyRi wurde in den Niederlanden dann auch noch vor allem in Vierteln verwendet, in denen migrantische Personen leben, also Personen, die auch Niederländisch vielleicht nicht unbedingt perfekt beherrschen und es zu mehreren Fehlern kommen kann.

Schön: Jetzt sprichst du ja schon von einem ganz konkreten Anwendungsszenario. Ich würde gerne wissen, in welchem Entscheidungsverfahren maschinelle Lernsysteme denn sonst schon eingesetzt werden und wie genau die funktionieren, vielleicht auch im deutschsprachigen Raum?

Guijarros Santos: Mhm, also diese Frage ist immer ganz bisschen tricky und ich finde es auch wichtig, dass hervorzuheben, dass viele dieser Systeme von privaten Unternehmen entwickelt werden. Und auch von Unternehmen oder vom Staat eingesetzt werden und niemand in dieser Kette hat ein sonderlich großes Interesse daran, dass preiszugeben. Deshalb ist es häufig relativ schwierig herauszufinden, wer diese Systeme eigentlich schon benutzt und um die Frage aber trotzdem zu beantworten, [lacht] es gibt nämlich…- und das ist möglich, man kann diese Frage beantworten, weil es Investigativjournalist:innen gibt, weil es NGOs gibt, weil es Forscher:innen gibt, die sich die Mühe machen, trotzdem irgendwie irgendwas herauszufinden. Und darauf basierend weiß ich, dass in Deutschland zum Beispiel beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, wird ein Spracherkennungstool benutzt, dass den Dialekt von Geflüchteten erkennen soll und danach dann bestimmt wird, vorher eine Person kommt. Und dabei ist dann das große Problem, dass dieses Spracherkennungssystem funktioniert, nur…- also hat eine statistische Genauigkeit von 80%. Und es ist auch nicht so ganz klar, was diese statistische Genauigkeit von 80% eigentlich bedeutet.
Also was die Datengrundlage war, was für Dialekte waren da drin, waren das unterschiedliche syrische Dialekte, unterschiedliche ägyptische Dialekte oder war das jetzt irgendwie einmal Hocharabisch und dann Syrisch und dann 80% lag es richtig? Und selbst wenn es irgendwie nur Hocharabisch und ein syrischer Dialekt war, sind 20% immer noch falsch. Und dann kommen viele Geflüchtete auch nicht nur aus Ländern, wo man Hocharabisch spricht oder einen anderen Dialekt hat. Also es funktioniert ganz häufig nicht und das ist ganz dramatisch, weil es in Asylverfahren häufig auf die Glaubwürdigkeit von Geflüchteten ankommt. Und dass wenn dann irgendwie so eine KI sagt, die Person sagt zwar, sie ist aus Syrien, ist sie aber gar nicht, dabei ist sie aus Syrien, aber war halt einer dieser negativen Fälle, dann bestimmt das das ganze Verfahren aufgrund von so einer Software. Und sonst weiß man auch unter Privatem, das eine ganz bekannte Beispiel sind Bewerbungsalgorithmen, also Systeme die genutzt werden, um Bewerbungen zu screenen und auszusortieren. Und auch da weiß man aber ziemlich wenig, wer das jetzt eigentlich schon benutzt. Es gibt unfassbar viele Angebote, aber, ob die Unternehmen das dann auch wirklich machen, ist noch relativ unklar, man weiß aber, dass sie sich auch schon darauf vorbereiten.

Schön: Im Grunde geht es da um Erleichterung und um Effizienz. Aber wem nutzen diese Algorithmen tatsächlich?

Guijarros Santos: Ja, das finde ich eine total wichtige Frage. Also gerade wie sie benutzt werden. Nutzen sie denjenigen, die ohnehin schon viel Macht in ihren Händen halten und werden genutzt, um Migrant:innen, um rassifizierte Personen, um Frauen, queere Personen noch weiter an den gesellschaftlichen Rand zu drücken? Und warum passiert das? Ist das BAMF inhärent böse? Wahrscheinlich nicht. Das BAMF will, dass diese Asylverfahren möglichst effizient vonstattengehen und daran haben ja natürlich auch Asylbewerber:innen ein Interesse. Niemand will für mehrere Jahre in so einer Unterkunft leben. Und nicht wissen, was in der Zukunft passiert. Das ist eine total prekäre Situation und alle wollen diese Situation ändern. Es gibt also ein hohes Interesse, dass diese Verfahren möglichst schnell ablaufen. Aber dafür muss man nicht unbedingt diese Technologie benutzen. Man kann auch mehr Übersetzer:innen einstellen. Es gibt auf jeden Fall viele andere Wege, anstatt einer Software, die in 20% der Fällen falsch liegt.

Schön: Es gibt ja auch schon einige Einsatzbereiche von KI in Rechtsverfahren, also ob im Steuerrecht oder in so digitalen Vertragsbaukastensystemen oder eben bei legal Chatbots. Die Algorithmisierung ist also voll im Gange, auch in der Justiz. Wir haben nämlich in Folge 2 gehört, dass es in Deutschland regionale Unterschiede gibt bei der Festlegung des Strafmaßes. Und wäre es da nicht fairer, wenn eine KI die Urteilsfindung zumindest begleitet und Richter:innen in Frankfurt, wie Richter:innen im gleichen Fall, in ähnlichen Fall in München oder Schleswig-Holstein geurteilt haben? Weil auch da spielen persönliche Biases gegenüber Angeklagten eine große Rolle.

Guijarros Santos: Ja, auf jeden Fall. Es gibt also das Bewusstsein, dass Entscheidungen unterschiedlich sind. Dass sie den Eindruck erwecken, dass irgendwie willkürlich entschieden wird, dass es total drauf ankommt, welche Richterin jetzt vor einem sitzt, also woher sie kommt, was für Biases hat sie. All diese Dinge. Und dann setzen wir jetzt wieder KI dazwischen, und die löst dann das Problem für uns. Und ich glaube, wir müssen einfach wirklich sehr, sehr darauf achten, was für ein System man einsetzt und wofür man das einsetzt. Und wie sehr auch dann die Richter:innen trainiert werden, diese Systeme zu verstehen.
Ich finde es toll, wenn algorithmische Systeme oder KI-Systeme genutzt werden, um Entscheidungsverfahren zu analysieren und dadurch zu begleiten. Und damit meine ich, dass zum Beispiel auch einfach mal diese ganzen Gerichtsurteile überhaupt in Daten übersetzt werden, also Daten lesbar gemacht werden, dass sie dann ausgewertet werden können. Und dass wir dann auch überhaupt eine gute Grundlage haben, um zu sagen, pass auf, Kammer X im Gericht X, ihr entscheidet häufig so und so. Kammer Y in Gericht Y entscheidet aber häufig so und so. Warum passiert das eigentlich? Warum entscheiden wir so unterschiedlich? Was sind unsere Entscheidungsparameter für denselben Fall?
Das fände ich super, wenn man algorithmische Systeme für so was verwendet. Stattdessen, was jetzt passiert ist aber, auch angeleitet von diesem Effizienz-Paradigma, was wir schon angesprochen haben, auch Strafverfahren dauern Ewigkeiten, auch da müssen Personen Ewigkeiten drauf warten, was jetzt in ihrer Zukunft passiert, werden sie in Freiheit leben oder nicht, wieviel Geld müssen sie bezahlen oder nicht? Werden sie bestraft oder nicht? All diese Dinge, all diese Verfahren dauern Ewigkeiten, und auch da haben natürlich die Angeklagten ein Interesse, dass das schnell abläuft. Die Gerichte sind überlastet, also auch das soll jetzt erleichtert worden. Und dann wird jetzt einfach eine Software implementiert, die dann eine Entscheidungshilfe macht in dem Sinne, dass sie den Richter:innen anzeigt ja oder nein. Oder Freiheitsstrafe, so oder so hoch oder Schuld, so oder so. Und mir fällt es schwer, es anders zu sagen, aber das ist es einfach Quatsch. Was sie machen, so wie sie jetzt gerade verwendet werden, Muster in den Daten über die Vergangenheit erkennen, über eine große Personengruppe. Und das wird dann auf dem Individuum in der Gegenwart, in der Einzelfallentscheidung genutzt. Und dadurch werden eben Stereotype und Muster auch auf dieses Individuum übergestülpt.

Schön: Wie kann man sich denn jetzt dagegen wehren, wenn man von einer falschen Entscheidung durch eine Künstliche Intelligenz betroffen ist? Wie ist die aktuelle Gesetzeslage in Deutschland, aber auch in der EU?

Guijarros Santos:  Es gibt in der Datenschutzgrundverordnung eine Norm, die grundsätzlich verbietet, dass automatisierte Entscheidungen getroffen werden, wenn sie eine hohe persönliche Relevanz haben. Ich formuliere das jetzt ein bisschen anders als es im Gesetz steht, aber mehr oder weniger ist es da drin. Strafverfahren, Asylverfahren, Bewerbungsverfahren haben eine hohe persönliche Relevanz. Aber dann müssen die Verfahren auch voll automatisiert sein, also eine Software muss komplett entscheiden, ja oder nein und nicht nur eine Empfehlung abgeben. Und daran scheitert dann häufig schon diese Anwendung dieser Norm, weil sie eben nur auf vollautomatisierte Verfahren zutrifft und nicht auf teilautomatisierte Verfahren, wenn also zwischen der Ausgabe einer Software und der letztendgültigen Entscheidung noch eine Caseworkerin, eine Richterin, eine Personalerin sitzt. Und wenn es aber voll automatisiert wäre, dann wäre die Regelung, dass man ein Recht auf den eigenen Standpunkt hat. Was ich auch sehr kritisch finde, weil dann eine einzelne Person darlegen muss, ich bin ganz anders als die Norm. Ich bin ganz anders als das Muster, was dieses algorithmische System in den Daten erkannt hat. Was einmal, glaube ich, kaum jemanden überzeugen wird, also zu sagen, ich bin ganz anders als das, was diese superfancy AI gerade ausgespuckt hat. Deshalb finde ich diese DSGVO-Norm, selbst wenn sie auf diese Systeme anwendbar wäre, sehr kritisch.
Und dann gibt es noch das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, das EU Antidiskriminierungsrichtlinien umsetzt und es immer dann greift, wenn eine betroffene Person vermutet, dass sie diskriminiert worden ist, also dass sie im Einzelfall individuell benachteiligt worden ist. Aufgrund benannter Antidiskriminierungskategorien wie Geschlecht, race, Alter, Behinderung, Religion. In den Fällen ist es dann so, ich muss überhaupt erstmal wissen, dass ich von einem algorithmischen System bewertet wurde, dann muss ich die Vermutung haben, dass ich diskriminiert worden bin, also dass ich aufgrund dieser benannten Kategorien individuell benachteiligt worden bin, aber es reicht nicht nur, dass ich dieses Gefühl dafür habe, sondern ich muss auch ein Gericht davon überzeugen, dass ich vermute, diskriminiert worden zu sein. Also der Zugang zum Recht, ist schon eine unfassbar hohe Hürde. Und wenn man dann diese Hürde aber geschafft hat, wenn man also einmal in diesem Gerichtsverfahren drin ist, dann haben die Gerichte in Deutschland die Tendenz, immer nur diesen Einzelfall zu behandeln und immer nur darüber zu sprechen, ob jetzt in dieser Entscheidung, wo die Personalerin, also denkt man an einen Bewerbungsalgorithmus, wo die Personalerin entscheiden musste Bewerberin ja oder nein, ob sie in dem Moment auch von dieser Software angeleitet war und auch deswegen dann eine Entscheidung getroffen hat gegen die Bewerberin und dann kommt es wieder darauf an, ob diese Software, wie es in der Machine Learning Forschung heißt, ab die ein Bias hatte oder nicht, dann wird das ganze Ding mega technisch und kompliziert. Und es geht dann nicht darum, ob also so wie die Gerichte das häufig auslegen, ob nicht überhaupt schon der Einsatz dieses Algorithmischen Systems diskriminierend ist. Und ob man deshalb das unterlassen sollte.
Und dann gibt es jetzt auch noch den KI-Verordnungsentwurf der EU. Es gibt zum Beispiel eine Norm, die darin anschließt, dass ja in der DSGVO, die Norm nur für vollautomatisierte Entscheidungen trifft und in der KI-Verordnung wird vorgeschlagen, dass auch bei, also bei allen Systemen, die KI gestützt sind, dass bei jeder dieser Entscheidungen immer irgendwie eine menschliche Aufsicht da ist und deshalb dann irgendwie auch erlaubt zu intervenieren. Wenn also eine Betroffene meint, ich bin anders, dann könnte sie das sagen und dann könnte aufgrund der KI-Verordnung auch die Nutzerin dieser KI dann intervenieren. Ich finde diese DSGVO-Norm insgesamt nicht sonderlich hilfreich, weil ich nicht glaube, dass das überzeugend ist und ich das auch problematisch finde, dass das Entscheidungsmuster an sich dadurch legitimierbar gemacht wird.

Schön: Findest du KIs prinzipiell deswegen super kritisch oder findest du eigentlich spannend, dass es diese Technologie gibt? Und was wünscht du dir für die Zukunft im Umgang mit KI?

Guijarros Santos: Ich habe auch eine positive Einstellung gegenüber Technologien, auch wenn das nicht so anklang. Ich glaube, dass Technologien auch total viel Kreativität loslösen können, also es gibt jetzt auch gerade diese ganzen Text-zu-Bild-KI-Systeme wie DALL-E oder Stable Diffusion und es macht auch total Spaß, das zu machen, was einzugeben und dann kriegt man witzige Bilder, diese ganzen Sachen auszuprobieren. Ich finde auch, dass KI-Systeme super sinnvoll eingesetzt werden können. Wie ich das vorhin erwähnt hatte, bei den Strafverfahren zum Beispiel, dass man mal die Entscheidungsmuster analysiert und dass man dann auch mal richtig auf einer evidenzbasierten Grundlage darüber spricht, was läuft hier eigentlich gerade falsch, finden wir das falsch oder nicht und das dann anfängt zu korrigieren und die Institutionen zu reformieren. Ich glaube, dass total viel Potenzial darin steckt.
Aber das passiert gerade nicht. So, wie diese Daten jetzt gerade genutzt werden, werden sie eben viel häufiger dazu genutzt, um marginalisierte Personen weiter an den gesellschaftlichen Rand zu drücken, gar nicht beabsichtigt. Aber dadurch, dass unsere Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden. Ich finde es auch problematisch, dass diese Infrastruktur, die benötigt wird, um Daten zu generieren, um Daten zu speichern, um Daten zu labeln, dass die Infrastruktur in den Händen wenigen privaten Unternehmen liegt, dass die Öffentlichkeit darauf gar keinen Zugriff hat, dass wir gar nicht mitentscheiden, in was für Beziehungen wir mit Technologie eigentlich leben. Die einzige kleine Entscheidungsmöglichkeit, die wir haben, ist Cookies, ja oder nein. Und ich glaube, dass man das alles anders gestalten kann. Ich glaube, dass wir in einen Prozess eintreten sollten, in dem wir in der Öffentlichkeit viel offener darüber diskutieren, in was für Beziehungen wir mit welchen Technologien leben wollen, ob wir das überhaupt wollen.
Genau, also, wenn ich frage, was mein Ausblick ist, dann hoffe ich, dass wir offener darüber reden. Und dass wir einen Weg finden, Technologien wie KI-Systeme so zu nutzen, dass sie sozial marginalisierte Personen vom gesellschaftlichen Rand loslösen, dass sie uns dadurch allen nützen und dass wir demokratisch darüber entscheiden.

Schön: Vielen Dank für den Einblick in die rechtliche Dimension von KI in Entscheidungsverfahren und danke, dass du dir die Zeit genommen hast!

Guijarros Santos: Ja sehr gerne! Vielen Dank für die Einladung.

 

[kurze musikalische Zwischensequenz]

Kann Künstliche Intelligenz moralisch handeln? – Interview mit Tech Governance Expertin Lejla Fetic

Schön: Puh, ich muss das erstmal sacken lassen. Ich finde es nämlich schon erstaunlich, dass bisher nicht transparent gemacht werden muss, wo zum Beispiel in öffentlichen Verwaltungen oder eben auch auf dem Arbeitsmarkt, Entscheidungen mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz vorbereitet werden. Wie leicht es ist, einer Empfehlung zu folgen oder ihr nicht zu folgen, das merken wir selbst in unserem Alltag. Social Media Portale oder Unternehmen, die Klamotten, Bücher oder Elektronik verkaufen, die schlagen ja gezielt Produkte vor, die uns interessieren können. Und seien wir mal ehrlich, es ist ganz schön schwer, sich von der einen oder anderen Information nicht beeinflussen zu lassen. Das Versprechen dahinter, das verstehe ich schon individuell maßgeschneiderte Lösungen für uns, das kann aber auch in einem ganz anderen Kontext verwendet werden, zum Beispiel wird das gerade bei einem Nachrichtenportal in Kuwait ausprobiert. Dort gibt es seit kurzem eine virtuelle Nachrichtensprecherin, Fedha, so heißt die Frau, soll mit Hilfe von Künstlicher Intelligenz geschaffen worden sein und ein kleines Vorstellungsvideo von ihr gibt es sogar schon im Internet, indem sie klassisches Arabisch spricht. Die Kuwait News testen sie gerade und hoffen dann, dass sie den Nutzerinnen und Nutzern zukünftig personalisierte Nachrichten präsentieren kann, z.B. auch mit einem kuwaitischen Akzent.
Aber wir müssen eigentlich gar nicht ins Ausland schauen, in Deutschland gibt es auch jede Menge KI generierten Content, zum Beispiel Radio Helgoland. Das ist ein online Radiosender, der von sich selbst sagt, dass er wohl der erste Radiosender weltweit ist, der ausschließlich von Künstlicher Intelligenz gesteuert und moderiert wird. Auch die Moderator:innen existieren nur virtuell. Irgendwie ist das ja witzig und gleichzeitig hat Victoria Guijarros Santos ja auch einen guten Punkt. Wir sollten uns nicht blind auf Algorithmen verlassen und sollten vor allem die Einsatzmöglichkeiten von Künstlicher Intelligenz in unserem Alltag mitbestimmen. Weil in dem Bereich im Moment so viel passiert, hinken unsere Gesetze wie immer bei Innovationen, das ist ganz normal, ein bisschen hinterher und haben eigentlich auch noch keine gute Lösung für die ethischen Probleme mit KI. Aber genau über die möchte ich jetzt mit Lajla Fetic sprechen. Sie ist Co-Leiterin des Projekts Ethik der Algorithmen bei der Bertelsmann Stiftung und wurde 2021 für ihre Arbeit als eine der One Hundred Billion Women in AI ausgezeichnet. Ich freue mich sehr, dass du da bist! Herzlich willkommen, liebe Lajla.

Fetic: Vielen Dank! Vielen Dank für die Einladung.

Schön: Was ist für dich persönlich eigentlich gerecht?

Fetic: Ja, wie viel Zeit haben wir? [lacht] Ich hoffe, ein paar Tage. Nee, das ist eine total gute und richtige Frage und ich denke häufig darüber nach, weil im Grunde genommen das Projekt, in dem ich arbeite, was ich leiten darf, beschäftigt sich indirekt implizit immer mit Gerechtigkeit und deshalb ist die Frage sehr relevant, was ich darunter verstehe. Und ich kann darunter wahrscheinlich keine zufriedenstellende Antwort geben. Und wieso? Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich vor allem den Gedanken von Amartya Sen ganz spannend finde an dieser Stelle der, die Idee der Gerechtigkeit in einem Buch festgehalten hat und dort eine Sache beschrieben hat, die mich seitdem sehr, sehr prägt. Und zwar, dass wir im Grunde genommen gar nicht so richtig beschreiben können, was Gerechtigkeit bedeutet, sondern vielmehr beschreiben können, was ungerecht ist. Und dass das etwas ist, was im Zweifel auch der Schlüssel zu vielen Fragen ist. Denn ganz am Anfang, so beschreibt er in seinem Buch, entwickeln selbst Kindern ein Gefühl von Ungerechtigkeit und das hält dann auch bis in das Erwachsenenalter und das ist das, was unser Tun leiten sollte am Ende des Tages, nämlich diese Ungerechtigkeit anzugehen und die Welt ein Stück weit gerechter zu machen. Und insofern prägt mich das auch in meinem täglichen Leben und auch in meiner Arbeitswelt, dass ich nicht unbedingt ein Bild von einer absolut gerechten Gesellschaft im Kopf habe, aber mit meinem Tun gerne Ungerechtigkeit ein Stückweit weniger stattfinden lassen will und ein Stückchen dazu beitragen möchte, dass die Welt gerechter ist. Also insofern habe ich ein ganz dynamisches Verständnis von Gerechtigkeit an dieser Stelle und das prägt mich eben entsprechend auch im Kontext der Algorithmen.

Schön: Wir haben im Gespräch gerade eben mit Victoria Guijarros Santos gehört, dass maschinelle Lernsysteme nicht die besseren Entscheidungen treffen, aber dafür strukturelle Ungleichheiten im System aufdecken können. Welche Rolle spielen Ethik und Moral beim Einsatz von KI denn deiner Meinung nach?

Fetic: Also zunächst einmal zum Ethik Begriff. Das ist für mich die Lehre vom guten Handeln und hilft uns analytisch über die normativen Weltvorstellungen an der Stelle nachzudenken und die auch ein Stück weit in Frage zu stellen. Moral wiederum beschreibt das gute Handeln als solches und ist an der Stelle eben normativ, wenn man so möchte. Und im Kontext von algorithmischen Systemen ist Ethik ja nicht wegzudenken. Weil Algorithmische Entscheidungssysteme, so wie ich es bezeichne, ich spreche seltener von Künstlicher Intelligenz, Algorithmische Entscheidungssysteme sind Werkzeuge, die wir nutzen, um unser Leben im besten Falle besser, leichter, schneller, vergnüglicher zu gestalten, und dabei treffen wir implizit und explizit Annahmen darüber, was denn unser Leben besser, schöner, schneller macht, und über diese Annahmen sollten wir sprechen. Denn die sind mitunter nicht für alle gleich. Also insofern kann ich der Vorrednerin, kann ich Victoria nur zustimmen, ja Algorithmische Entscheidungssysteme können Entscheidungsmuster und Wertvorstellungen aufdecken, aber immer nur dann, wenn wir diese Systeme, diese Werkzeuge auch ganz bewusst entwickeln und einsetzen und in der Praxis ist das manchmal eben nicht der Fall, und das wiederum führt zu der Reproduktion von sozialer Ungleichheit, von Vorurteilen. Und damit können mitunter Menschen systematisch diskriminiert oder auch ausgebeutet werden.

Schön: Wie müssen ethische Regeln denn gebaut sein oder konstruiert sein für den Einsatz von Algorithmische Entscheidungssystemen, wie du es jetzt genannt hast, um genau so etwas zu vermeiden?

Fetic: Im besten Falle entwickeln wir Regeln, die nicht für die Systeme, sondern vor allem für die Menschen gelten. Denn was ich häufig in der Diskussion erlebe, und deswegen sprechen wir auch nicht mehr von Ethik der Algorithmen, was ich häufig erlebe, ist, dass diesen Systemen ein Stück weit Verantwortung unterstellt wird, die diese Systeme nicht übernehmen können. Denn am Ende kann nur der Mensch für sein Handeln oder für das Handeln insgesamt verantwortlich sein und dazu gehört auch das Entwickeln technologischer Innovationen. Folglich müssten aus meiner Sicht vor allem die Regeln für Menschen gelten, die die die Systeme entwickeln, aber auch einsetzen oder auch evaluieren. Und da hilft mir im Kopf, das Bild von soziotechnischen Systemen. Also wir sprechen nicht nur von rein technologischen Systemen, wenn wir von Algorithmen und Künstlicher Intelligenz sprechen, sondern von soziotechnischen Systemen. Das bedeutet, dass sind Werkzeuge, die im sozialen Kontext auch eingebettet sind. Und wenn wir den größeren sozialen Kontext von Algorithmen miteinbeziehen, dann müssen wir Regeln gestalten, die von Anfang an die Entwicklung mit begleiten und auch den sozialen Kontext dabei mit vor Augen halten.
Um vom Abstrakten ein bisschen wegzukommen und konkreter zu werden, weil auch das treibt meine Arbeit oder unsere Arbeit bei der Bertelsmann Stiftung an, es gibt Algorithmen, die beispielsweise helfen, Verkehrsströme zu analysieren und entsprechend Empfehlungen auszugeben, wie man mit diesen Verkehrsströmen umgehen könnte. Also um beispielsweise den Nachmittagsstau in der Stadt an der Stelle zu entlasten. Das hat einen großen sozialen Impact. Wenn ich im Stau bin mit dem Auto, dann bin ich genervt, wenn der Stau gerade da ist, wo eine Spielstraße ist oder eine Fahrradstraße ist, dann hat das auch einen großen Einfluss darauf, wie Menschen zusammenleben. Und wenn wir solche Systeme entwickeln, dann müssen wir ganz am Anfang, uns Gedanken darüber machen, wofür wollen wir denn dieses System eigentlich nutzen? Und insofern ist mit dem ersten Gedanken für die Entwicklung eines solchen Systems eine Regel wichtig, wie beispielsweise, dass man transparent darüber redet, wieso, weshalb, warum entwickeln wir an dieser Stelle. Also mein Ziel ist es im Grunde genommen, dass wenn wir technologische Innovationen entwickeln, wir uns von Anfang an darüber Gedanken machen, was hat es für gesellschaftliche Implikation, wo könnten wir bestimmte ethische Fragestellungen aufkommen lassen und wie müssten diese dann auch breit diskutiert werden?

Schön: Jetzt bist du schon mittendrin im Thema Regeln und Regulierungen und das bringt mich zu dem Punkt, den ich unbedingt mit dir besprechen möchte, denn du hast ja im Grunde ein Regelwerk für den Einsatz von Algorithmen entwickelt, die sogenannten Algo.Rules. Das sind ethische Gestaltungsprinzipien für KIs in Unternehmen beziehungsweise maschinelle Lernsysteme in Unternehmen. Was gehört alles zu diesen Regeln dazu? Und welche Regeln müssen beachtet werden, wenn man eben maschinelle Lernsysteme entwickelt?

Fetic: Ich war nicht alleine bei dieser Entwicklung, es waren über 500 Expert:innen beteiligt an der Entwicklung der Algo.Rules und mit den Algo.Rules sind wir damit dann auch nicht alleine, weil selbst die Europäische Kommission sich in einer High Level Expert Group Gedanken dazu gemacht hat, welche ethischen Prinzipien wichtig wären für die Entwicklung solcher Systeme. Und die Algo.Rules sind trotzdem ein Stück weit anders als die meisten Ethikregelwerke an der Stelle, weil im Grunde genommen kommen wir ohne Ethik aus und das verwirrt oder irritiert erstmal. Diese neuen Gestaltungsprinzipien sind aber ganz bewusst nicht ethisch oder geben moralische Normen vor. Wir haben nämlich in dem Entwicklungsprozess gemerkt, uns geht es nicht darum zu sagen, wann ist ein algorithmisches System gut oder schlecht, das können wir von außen gar nicht beurteilen. Wir möchten aber, dass im Entwicklungsprozess und im Einsatzprozess die beteiligten Personen die richtigen Fragen stellen, um über ethische und gesellschaftliche Dimension ihrer Arbeit nachzudenken.
Das klingt auch wieder abstrakt. Ich mache es mal konkret. Die erste Algo.Rule ist das Thema Kompetenzen aufbauen. Diese erste Regel klingt erst mal ganz easy peasy. In der Praxis ist es aber, glaube ich, eines der wichtigsten und schwierigsten zu erreichenden Ziele, die wir uns an dieser Stelle vorstellen können. Denn was wir meinen mit Kompetenzaufbau ist nicht, dass die IT-Nerds noch besser werden im Coden, sondern wir stellen uns vor, dass die ITler, die Entwickler:innen ein Gefühl dafür bekommen sollen, welche sozialen Implikationen ihr Handeln hat, also Kompetenzen dahingehend aufbauen, dass sie wissen, für welchen Kontext entwickle ich da eigentlich. Und diejenigen, die Algorithmische Entscheidungssysteme einsetzen, die brauchen ein Stück weit Kompetenzen um technische Entwicklungsseiten der Algorithmische Entscheidungssysteme und sie müssen auch Kompetenzen aufbauen, um die Entscheidungssysteme gut zu kommunizieren, einordnen zu können und entsprechend die Prognosen, die beispielsweise so eine Entscheidungssystem mitgibt, gut interpretieren zu können, und das ist eine der Regeln.

Schön: Gleichzeitig werden die meisten algorithmischen Werkzeuge von Privatunternehmen entwickelt, die ja auch erstmal ein monetäres Interesse daran haben, dass ihre Werkzeuge gekauft, genutzt werden und da ethische Fragestellungen oder soziale Fragestellungen nicht unbedingt im Vordergrund stehen. Wie geht man mit dieser Diskrepanz um?

Fetic: Natürlich ist die Fragestellung, was ist der Anreiz für Unternehmen, solche zusätzlichen Regeln zu befolgen, total wichtig. Und teilweise ist diese Frage noch nicht ganz beantwortet. Aber vielleicht einen Einblick in die aktuelle Lage. Ich glaube für uns Nutzer:innen, Konsument:innen wird immer deutlicher, dass solche Systeme nicht neutral sind, dass solche Systeme auch mit Gefahren und Risiken einhergehen und deshalb wächst ein Stück weit auch der Druck für Unternehmen, entsprechend nachweisen zu können, wir nehmen diese Sorgen ernst und wir entwickeln aktuell unsere Systeme unter besonderen Qualitätsansprüchen. Und insofern glaube ich, dass es durchaus ein Druck der Konsument:innen und Nutzer:innen gibt, der wiederum dann überzeugend auf Unternehmen wirkt. Und gleichzeitig sehe ich auch, dass viele Unternehmen das Thema sehr ernst nehmen, um sich ja besser behaupten zu können im Markt der vielen Anwendungen und auch in einem Markt, der von Monopolunternehmen geprägt ist. Viele Unternehmen, die Algorithmische Entscheidungssysteme entwickeln, die wir häufig nutzen, also gerade im Kontext sozialer Plattformen, kommen nicht aus Deutschland oder nicht aus Europa. Und insofern ist es fast so ein Verkaufsargument für europäische Unternehmen, hier mit besonders großem Wert, also intensiven Wertvorstellungen, auch voranzuschreiten.
Nichtsdestotrotz gibt es auch Unternehmen, die das nicht ganz so ernst nehmen und die glücklicherweise jetzt aber einen Anreiz bekommen, der nicht ganz freiwillig daherkommt, nämlich durch die KI-Verordnung, die auf europäischer Ebene gerade diskutiert wird, die im Grunde genommen unwilligen Unternehmen auch ein Stück weit die Verantwortung aufdrängt, indem sie regulativ entsprechend Maßnahmen vorgibt, aber am Ende kann auch das selbst nicht ausreichen, denn wenn ein Unternehmen so ein System entwickelt und es dann aber von Organisationen oder Menschen eingesetzt wird, die sich nicht der Risiken und der verschiedenen Aspekte eines richtigen Einsatz bewusst sind, kann auch dann viel schieflaufen. Also insofern hier nochmal mein Appell, ich nenne das immer KI-Lebenszyklus, den gesamten Lebenszyklus im Kopf zu behalten. Und die Entwicklung eines solchen Systems, die ist eine total wichtige Komponente. Die Anwendung eines solchen KI-Systems ist aber fast genauso wichtig und da wissen wir, dass wir Menschen oftmals richtig große Fehler machen, also weil wir eben nicht die rational denkenden Wesen sind, von denen wir gerne hätten, dass wir es wären, sondern Entscheidungen auf Basis von Biases, also Verzerrungen im Kopf treffen und selbst bei der Unterstützung durch Algorithmen werden wir ein Stück weit von diesen Biases gelenkt und treffen teilweise auch trotz automatischer Unterstützung die falschen Entscheidungen. Also insofern, es gibt viele Momente, wo es schief laufen kann. Gleichzeitig bleibe ich da optimistisch, weil die Sensibilisierung die Aufmerksamkeit gerade so groß ist für die potentiellen Gefahren, dass ich glaube, dass wir da zu einem guten Ende kommen.

Schön: Was sind die inhaltlichen Eckpfeiler von der Europäischen KI-Verordnung? Könntest du da nochmal ins Detail gehen?

Fetic: Also die KI-Verordnung beschäftigt sich allgemein grundsätzlich mit der Entwicklung und dem Einsatz von KI-Systemen, weil wir gesehen haben, dass bestimmte Gefahren und Risiken immer wieder auftauchen, unabhängig der konkreten Anwendung. Wir sehen, dass Algorithmische Entscheidungssysteme ja technisch fehlerhaft sein können und in der konkreten Anwendung dadurch zu Gefahren führen. Wir sehen, dass also auch ethische Fehler oder Diskriminierung auftauchen können. Beispielsweise werden bestimmte Nutzer:innen-Gruppen diskriminiert oder deren Belange nicht ausreichend in der Entwicklung der Systeme miteinbezogen. Also beispielsweise bei Gesichtserkennungstechnologien. Also solche Systeme sind nicht fehlerfrei, wir wissen vor allem von People of Color aus den Staaten, die wissenschaftlich dazu gearbeitet haben, dass solche Systeme die Gesichter von schwarzen Frauen nicht gut oder nicht gleich gut erkennen und insofern sind diese Gesichtserkennungstechnologien diskriminierend, gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen oder bestimmten Merkmalen ganz besonders.
Und das kann mir als Einzelperson teilweise dann nicht auffallen, weshalb es wichtig ist, dass wir eine Regulierung haben, die grundsätzlich dafür Sorge trägt, dass solche großen grundsätzlichen Fehler auch adressiert werden, und dafür ist die KI-Verordnung da. Und was sie macht ist, die Unternehmen zu verpflichten, bestimmte Anforderungen zu treffen. Klingt total abstrakt. Ich mach‘s mal deutlich. Also wenn ein System ein besonders großes Risiko mit sich bringt, beispielsweise weil es in dem Personal Recruiting Kontext eingesetzt wird, dann muss das Unternehmen, was diese Systeme entwickelt und das Unternehmen, das solche Systeme einsetzt, dafür Sorge tragen, dass die Anforderungen, die wir in der KI-Verordnung haben, auch erfüllt werden. Das sind dann Anforderungen, beispielsweise der Transparenz da, das heißt, man muss darüber informieren, dass das System eingesetzt wird, dass diese Systeme unter menschlicher Aufsicht sozusagen ihr Werk tun können und im Grunde genommen soll das dann entsprechend absichern, dass in besonders risikohaften Bereichen solche Systeme Entscheidungen treffen oder Entscheidungen vorbereiten, die wir einfach nicht ungesehen haben wollen.
Trotzdem gibt die aktuelle KI-Verordnung auch schon…- weißt sie schon ein paar Lücken auf, denn die große Frage wird natürlich sein, was verstehen wir eigentlich unter KI, was wird denn da eigentlich reguliert und auch wie man eben das Risiko genau bemisst? Und das wird gerade auf europäischer Ebene heiß diskutiert. Also wie breit, wie eng ist die Definition, sind darunter nur Systeme zu verstehen, die lernen oder sind es vielleicht auch Systeme, die eher statisch sind, also denen man Regeln vorgibt und die diese dann einfach nur umsetzen und im Grunde genommen, was bedeutet Risiko, wer muss das eigentlich anzeigen, wer darf eigentlich darüber bestimmen, welche Systeme Hochrisikosysteme sind und welche eben kein so großes Risiko darstellen?
Und dann der dritte Schritt ist, wenn beispielsweise Anforderungen wie menschliche Aufsicht an der Stelle stehen. Was bedeutet denn menschliche Aufsicht? Sitzt da jemand daneben und schaut den maschinellen Systemen beim Lernen zu? Ist das menschliche Aufsicht? Oder ist es eher die Person, die das am Ende des Tages anwendet? Hat die eine Schulung bekommen? Und ist dann sozusagen die Aufseherin des Entscheidungssystems? Da sind noch viele Sachen unklar.

Schön: Wie werden aber die tatsächlich Betroffenen in die Entwicklung von diesen Regulierungen einbezogen? Also gibt es da eine Art Bürger:innen Rat oder eine Art Betroffenen Rat?

Fetic: Beispielsweise gibt es bei europäischer Regulierung immer die Möglichkeit, sich in den Konsultationsprozessen zu beteiligen. Wir wissen aber auch aus anderen Politikfeldern, dass sich am Ende vor allem Unternehmensvertreter:innen beteiligen und nicht jetzt meine Mutter und mein Vater, die irgendwie Lust haben europäische Regulierungen zu feedbacken. Dafür fehlt meistens die Zeit und im Zweifel vielleicht auch die Kompetenzen. Und auch zivilgesellschaftliche Organisationen, die die Kompetenzen haben, haben leider oftmals nicht genug Zeit, sich im Detail mit allen Verordnungen und mit allen Direktiven zu beschäftigen. Weshalb diese Konsultationsprozesse, was Regulierung angeht, oftmals sehr unternehmerisch im Fazit ausfallen. Das ist schade, weil Zivilgesellschaft sich oftmals für die Belange von betroffenen Gruppen, marginalisierten Gruppen einsetzt und insofern wünsche ich mir da so ein Stück weit einen Ausgleich, Mechanismus, der da auch Sorge trägt, dass eben auch zivilgesellschaftliche Stimmen ausreichend gehört werden. Aktuell finden KI-Systeme in so vielen Lebensbereichen statt und ich merke immer wieder, dass die meisten Menschen sich dessen gar nicht bewusst sind. Meine neueste Zahnbürste kommt laut Hersteller mit KI daher, die mir dann eben also erlernter maßen sagt, wann ich den Zahnbürstenkopf zu wechseln habe. Dann mache ich die Social Media Plattform auf, um mich zu informieren. Auch die basieren auf recommender systems und empfehlen mir personalisiert, welche Artikel, welche Tweets ich zu lesen habe. Dann gebe ich meistens ein, wie der schnellste Weg zur Arbeit ist und nutze Google Maps, also Navigationssysteme. Auch die basierend auf Algorithmischen Entscheidungssystemen und errechnen mir die schnellste Route. Da könnte man beispielsweise auch Algorithmen einsetzen, die einem die schönste Route ausrechnen oder eine, die mit besonders viel Sonnenstrahlen daherkommt, aber das zeigt einfach nochmal, auch da sind Algorithmische Entscheidungssysteme da, um unser Leben im besten Falle zu verbessern. Und deshalb ist es eigentlich so wichtig, dass diese Anwendungen nicht an den Anwender:innen vorbei entwickelt werden. Und in der Regel investieren Unternehmen auch in User Experience Tests und so weiter. Was dabei aber häufig passiert ist, dass diese Unternehmen oftmals mysterio-typische Vorstellungen von Menschen haben. Und wenn ich jetzt gerade an den Global North denke, also an Europa und Amerika, dann sind es oftmals so Vorstellungen von einem weißen cis Mann, ab 40+, der dann die Anwendung nutzt und also als junge Frau mit Migrationshintergrund ist das jetzt nicht der beste Ankerpunkt für mein Nutzungsverhalten und das wiederum verpassen einige Unternehmen leider Gottes und deshalb sind diese Anwendungen teilweise an den Nutzer:innen-Interesse vorbei.

Schön: Seit dem 1. Januar 2023 dürfen selbstfahrende Autos bis zu 130 Kilometer pro Stunde auf deutschen Autobahnen fahren. Das Gesetz ist schon da, bisher ist aber noch kein einziges Auto dafür zugelassen. Aber eine dringende Frage gibt es hier schon noch, und zwar angenommen, es passiert ein Unfall, wer übernimmt dann die Verantwortung?

Fetic: Und das ist eine Frage, die sehr spannend ist und wahrscheinlich auch sehr häufig gestellt wird, weil das autonome Fahren so schön greifbar macht, was eben maschinelles Lernen ermöglicht und trotzdem damit kommt im Grunde genommen ein her, dass wir oftmals dem Hype rund um KI vielleicht ein Stück weit zu sehr verfallen, weil gerade beim autonomen Fahren, also darüber wird zwar häufig gesprochen, aber wir sind gar nicht so weit. Und deswegen, das ist auch so ein interessanter Aspekt in dieser Diskussion, dass wir oftmals den Algorithmischen Entscheidungssystemen mehr Magie unterstellen, als es eigentlich ist am Ende.
Es ist Statistik und wir unterstellen oftmals uns selber, dass wir da viel weiter sind als wir im technischen Sinne eigentlich an der Stelle wären. Beim autonomen Fahren ist es so, dass man deshalb fünf Stufen definiert hat, die beschreiben sollen, wo wir im technologischen Fortschritt sind, und die fünfte Stufe stellt sozusagen voll autonome Fahrzeuge dar, und da sind wir einfach noch nicht. Ob wir da jemals sein werden vor dem Hintergrund der schlechten Dateninfrastruktur, der Sensorik und so weiter, das würde ich auch noch mal kurz in Frage stellen. Also zumindest mit Blick auf jetzt die absehbare Zeit. Und ich würde sagen, wir sind aktuell bei Stufe 3, sagen einige Hersteller. Hoch automatisiertes Fahren ist das. Das bedeutet also, dass unter bestimmten Bedingungen eine Art Automatisierung stattfinden kann. Und da kommt jetzt die Frage ins Spiel, die du gestellt hast, was passiert denn, wenn ebenso ein hoch automatisiertes System einen Fehler macht? Würde ich sagen, dass die aktuelle Rechtslage noch nicht ganz eindeutig ist. Wir haben aktuell die Situation für bestimmte Dinge, die Fahrzeughersteller:innen haften, für bestimmte Aspekte, die Fahrzeughalter oder eben auch diejenigen, die das Fahrzeug nutzen. Und das würde auch in diesem Fall zur Anwendung finden. Das bedeutet also, sobald ein System einen Fehler macht, würde ein Stück weit überprüft werden müssen, ob die Hersteller:innen alle Sicherheitsvorstellungen umgesetzt haben, die sie aktuell umzusetzen haben und dann würde man sich eben anschauen, was der Fahrzeughalter oder die Halterin und die Nutzenden im Grunde genommen unternommen haben, um den Unfall zu verhindern, oder was entsprechend die kausalen Zusammenhänge waren des Unfalls. Das heißt am Ende auch hier nicht so richtig viel Neues. Am Ende haften Menschen und diejenigen, die die Systeme nutzen, sind nicht völlig von ihrer Verantwortung befreit, das heißt, sie müssen sich entsprechend auch mit den Grenzen und Möglichkeiten eines technischen Systems vertraut machen. Das heißt nicht, dass alle Fahrzeughalter:innen jetzt verstehen müssen, wie der Motor funktioniert und auch nicht wie das KI-System funktioniert, aber sie müssen wissen, wie sie diese Systeme steuern, wann sie eingreifen müssen und wann es eben auch bestimmte Grenzen gibt, die man nicht überschreiten sollte. Und insofern, also die Antwort ist, am Ende, haftet der Mensch. Ein Stück weit werden es wahrscheinlich die Hersteller:innen tun müssen. Das wird aber eben auch, gerade weil das Thema so neu ist, auf europäischer Ebene diskutiert.

Schön: Werfen wir doch mal gemeinsam einen Blick in die Zukunft. Wie stellst du dir den Einsatz von KI für und mit den Menschen, für die sie gemacht wird, im Idealfall vor? Was wünschst du dir?

Fetic: Im Idealfall hätte ich wahrscheinlich meinen Job gar nicht mehr, weil dann müsste ich nämlich nicht mehr über die gesellschaftlichen Implikationen von KI oder Algorithmischen Entscheidungssystemen sprechen, weil wir alle verstanden haben, dass das einfach nur technologische Werkzeuge sind und technologische Werkzeuge eben ganz viel Potenzial auch haben, uns unser Leben einfacher zu machen, schöner zu gestalten, aber eben auch nicht ganz umsonst sind. Das heißt also, die Entwicklung kostet Geld, kostet Kraft und Energie so zu voranzutreiben, dass sie unseren Wünschen und unseren Bedürfnissen am besten und am ehesten entspricht. Dann braucht es Menschen wie mich nicht mehr, die darauf hinweisen, dass eben diese technologischen Mittel nur so gut sind wie die Menschen, die sie entwickeln und einsetzen, das wäre mein Traum.
Und wenn ich dann noch zusätzlich was zu träumen dürfte, dann nicht mehr, das wir so grundsätzlich auf technologische Hypes aufspringen. ChatGPT ist ein großes Stichwort gerade. Selbst meine Mutter spricht mich darauf an, die sonst mit Technik nicht so viel am Hut hat. Und da wünschte ich mir so ein bisschen eine aufgeklärtere Haltung zu. Also dass wir nicht jedes Mal ganz doll erschrocken sind, dass da etwas technologisch Neues kommt. Oftmals sind es richtig tolle lebenshelfende Systeme, die man einfach nur richtig gut zu nutzen wissen muss. Und das ist mein Wunsch, dass wir die KI-Systeme als intelligentere Hammer nutzen und wenn wir uns auf die Finger hauen, nicht den Hammer anschreien, sondern im Zweifel besser darüber nachdenken, wie wir den Hammer künftig nutzen wollen.

Schön: Vielen Dank für deinen Einblick und das Gespräch, liebe Lajla.
Jetzt haben wir vieles über Künstliche Intelligenz, Algorithmen und Maschinelles Lernen gehört. Es macht total viel Spaß damit rumzuspielen, aber KI kann eben auch gefährlich werden, wenn wir uns komplett auf sie verlassen. Was ist wahr und was ist echt? Das ist gar nicht mehr so leicht zu beantworten. Zum Beispiel, wenn durch den Einsatz von KI unechte Fotos mit echten Menschen generiert werden. Ihr habt sicher das gefakte Bild von Papst Franziskus mit der dicken Balenciaga Daunenjacke auf dem Schirm oder andere Deep Fakes wie das Video von Bundeskanzler Olaf Scholz dem Programmierer:innen Worte aus einem russischen Actionfilm in den Mund gelegt haben. Bei Algorithmischen Entscheidungssystemen geht es eben immer auch um Verantwortung, also dass wir ganz bewusst mit den Bildern und Infos, die uns Algorithmen im Alltag vorschlagen, umgehen und auseinandersetzen, aber auch mitbestimmen, wie KI als Werkzeug im Alltag zukünftig verwendet wird.

[Einsatz Upbeat Podcast-Outro im Hintergrund]

Abmoderation & Credits

Schön: Was sagt ihr denn zum Einsatz von KI? Gerade nach dieser Folge. Habt ihr mit Hilfe von Künstlichen Intelligenzen schon mal eine Entscheidung getroffen oder anders herumgespielt? Schreibt uns bei Insta, Facebook, per Mail oder lasst euer Feedback einfach hier bei Spotify. Ich freue mich auf jeden Fall sehr über eure Kommentare.
Nächstes Mal gehts bei „Justice, Baby!“ dann um Kohle, Cash und Moneten. Ja, wir sprechen über Geld und wie gerecht unser Steuerrecht eigentlich ist. Steuerrecht but make it cool, mal sehen, ob wir das nächstes Mal hinbekommen. Ich freue mich jedenfalls, wenn ihr dann wieder rein hört. Mein Name ist Kathrin Schön. Ich sage vielen Dank auch an meine Kolleginnen im Podcast Team und bis bald.

„Justice, Baby!“ ist ein Podcast der Stiftung Forum Recht.
Redaktion: Andrea Wojtkowiak, Vanessa Mittmann und ich, Kathrin Schön.
Juristische Beratung: Karolina Hanisch.
Produktion: Axel Seyboth und Anna Kunzmann von L‘agence.
Kommunikation und Distribution: Silke Janßen, Franziska Walter, Romy Klemm, Sabine Faller und Hannah Schelly.

[Outro blendet aus]

Transkript: Felicia Stahnke

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Grafik mit Text und Foto. Oben Titel "Justice, Baby! Folge 09 Inklusion" Darunter schwarzweiß Fotos von Andrea Schöne und Stefan Flach-Bulwan
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#9 Inklusion: Wieso bekommen Menschen mit Behinderung keinen Mindestlohn?

In Folge 9 spricht Host Kathrin Schön mit ihren Gästen über Inklusion und das Recht auf Teilhabe. Artikel 3 des Grundgesetzes verbietet die Benachteiligung von Menschen aufgrund einer Behinderung und ist die Grundlage für viele Folgegesetze. Die regeln das Recht auf Bildung, den Zugang zur Arbeitswelt oder auf Teilhabe am kulturellen und gesellschaftlichen Leben. So weit so gut in der Theorie. Doch im Alltag wird Menschen mit Behinderung der Weg in die Selbstständigkeit oft verstellt.


Wir sprechen mit Andrea Schöne, Journalistin und Beraterin für inklusive Medienangebote und Stefan Flach-Bulwan, Projektleiter einer Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung, über Chancengleichheit, Inklusion und das Einfordern der eigenen Rechte.

💡Außerdem hört ihr in dieser Folge auch Lukas Krämer. Er spricht in seinem YouTube-Kanal über aktuelle Themen, die Menschen mit Behinderung beschäftigen, zum Beispiel das Thema Mindestlohn: https://www.youtube.com/c/sakultalks

💻 Mitmachen! Die digitalen Angebote und Webseiten von Bundesbehörden müssen laut BGG barrierefrei sein. Der Verein Sozialhelden e.V. führt dazu noch bis zum 8. September 2023 einen Realitätscheck durch. Mitmachen kann man ganz einfach unter folgendem Link: https://sozialhelden.de/blog/deine-erfahrungen-sind-gefragt-wie-barrierefrei-sind-unsere-bundesbehoerden/

📖Nachlesen! Das Buch zu Behinderung und Ableismus von Andrea Schöne findet ihr hier: https://unrast-verlag.de/author_herausgeber/andrea-schoene/

🎥 Gruseln! Nichts für schwache Nerven. Im Horrorfilm „A quiet place” spielt eine gehörlose Frau die Hauptrolle. Ihre Stärke: Die Gehörlosigkeit. https://www.imdb.com/title/tt6644200/

🏅 Lernen! In der Doku „Mein Weg nach Olympia“ stellt der contergangeschädigte Regisseur Niko von Glasow fünf behinderte Sportler vor, die sich auf die Olympischen Spiele in London vorbereiten. https://www.imdb.com/title/tt2669646/

👑Bingen! Die Serie „Game of Thrones” macht es vor: Der Charakter Tyrion Lannister ist kleinwüchsig, allerdings dreht sich die Story nicht um seine Behinderung. Er spielt eine Rolle unter vielen. https://www.imdb.com/title/tt0944947/

[Hier das Transkript als PDF downloaden]

Justice, Baby! Der Podcast zu Recht und Gerechtigkeit
Transkript

Folge #9 Inklusion: Wieso bekommen Menschen mit Behinderung keinen Mindestlohn?

Szenischer Einstieg

[Der Podcast beginnt mit unterschiedlichen Stimmen.]

Befragte:r 1 [männlich konnotiert]:

Ich finde ja schon sehr spannend, dass wir viel Diskussionen führen über die Vielfalt in der Insektenwelt und auf Blumenwiesen und bei uns selbst, bei Menschen aussortieren. Da wollen wir offenbar nicht so viel Biodiversität.

Befragte:r 2 [weiblich konnotiert]:

In meiner Schulzeit kann ich mich nicht erinnern, dass wir z.B. einen Rollstuhlfahrer in der Schule gehabt hätten. Und das lag sicher nicht daran, dass es in meiner Altersgruppe niemanden gegeben hätte. Diese Leute, die eigentlich da hingehören, müssen ja irgendwo anders dann geblieben sein. Wo? – Weiß ich auch.

Befragte:r 3 [männlich konnotiert]:

Behinderte Personen haben mehr Rechte als nicht-behinderte. Damit werden aber die Nachteile, die sie durch ihre Behinderung haben, nur teilweise ausgeglichen.

Befragte:r 4 [männlich konnotiert]:

1,35€ – ist der Stundenlohn für Menschen mit Behinderung gerecht? Ich sag‘ ganz klar: nein, das ist nicht gerecht!

[fröhliches, Upbeat Intro ertönt und läuft im Hintergrund weiter]

Anmoderation

Podcast-Host Kathrin Schön: Wir haben Menschen in der Fußgängerzone gefragt, was sie über Inklusion in Deutschland denken. Und ihr habt‘s eben gehört: Unsichtbarkeit, mehr Rechte, aber trotzdem weniger Lohn für eine Stunde Arbeit. Ist das gerecht?
In dieser Folge sprechen wir über Inklusion und die Rechte von Menschen mit Behinderung. Die sind nämlich ganz klar geregelt und zwar in Artikel 3 des Grundgesetzes. Dort heißt es ja, alle Menschen sind gleich und niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden. Doch wenn man sich mal so umguckt, zum Beispiel auf der Straße, wie viele Bordsteine sind eigentlich abgesenkt, damit sich gehbehinderte Menschen oder Menschen im Rollstuhl dort gut bewegen können? Wie barrierefrei sind Restaurants, öffentliche Verkehrsmittel oder öffentliche Gebäude? Und wie sieht es eigentlich auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt aus? Wohnt ihr in einer barrierefreien Wohnung? Oder habt ihr eine Kollegin, einen Kollegen mit Behinderung? Welche Rechte können Menschen mit Behinderung einfordern und wo kommen auch Gesetze an ihre Grenzen?
Darüber spreche ich heute mit meinen beiden Gästen Andrea Schöne und Stefan Flach-Bulwan. Mein Name ist Kathrin Schön, ich begrüße euch zu einer neuen Folge von „Justice Baby! – dem Podcast zu Recht und Gerechtigkeit“, und schicke viele Grüße aus dem Pop-Up-Studio der Stiftung Forum Recht in Karlsruhe.

[Intro blendet aus]

Funktioniert das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz in der Praxis? – Interview mit Journalistin Andrea Schöne

Schön: Artikel 3 unseres Grundgesetzes ist der Dreh- und Angelpunkt, wenn es um Gleichberechtigung in unserer Gesellschaft geht. Das Grundgesetz ist ja sowas wie unsere unerschütterliche Basis, auf der total viele andere Gesetze aufbauen, die das, was in den Artikeln drinsteht, auslegen und eben auch klären, was sie eigentlich konkret für unseren Alltag bedeuten.
Der Satz aus Artikel 3 Grundgesetz: Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden, hat also echte Konsequenzen und wird in konkrete Folgegesetze übersetzt. Im Sozialgesetzbuch Nummer 9 ist zum Beispiel geregelt, auf welche Hilfsleistungen Menschen mit Behinderung Anspruch haben. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz soll vor Diskriminierungen beim Zugang zu Bildung, zu Wohnraum oder auf dem Arbeitsmarkt schützen und das Behindertengleichstellungsgesetz steht im Grunde für mehr Barrierefreiheit, also dass zum Beispiel Gebäude oder auch öffentliche Verkehrsmittel so gebaut sein sollen, dass sie ohne fremde Hilfe zugänglich und nutzbar sind.
Das klingt ja erstmal alles total super, finde ich. Aber ob das in der Praxis auch immer so funktioniert, wie es das Gesetz verspricht, das frage ich meine erste Gesprächspartnerin heute, Andrea Schöne.
Sie ist Autorin, Journalistin und Beraterin für inklusive Medienangebote. In ihren Texten beschäftigt sie sich vor allem mit Feminismus und mit Bildung, aber immer im Zusammenhang mit der Lebenswelt behinderter Menschen.
Liebe Frau Schöne, herzlich willkommen und schön, dass Sie da sind, beziehungsweise schön, dass Sie sich Zeit genommen haben.

Schöne: Hallo, vielen Dank für die Einladung in den Podcast. Ich freue mich sehr, heute mit Ihnen über diese Themen zu sprechen.

Schön: Grüße gehen raus nach Italien. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, dann sitzen Sie heute im Süden Europas.

Schöne: Genau, aber in Norditalien nicht ganz im Süden. [lacht]

Schön: [lacht] Alles ist südlicher als Karlsruhe heute.

Schöne: [lacht] Das stimmt.

Schön: Ich stelle all meinen Gästen zu Beginn jeder Podcast-Folge ein und dieselbe Frage und das will ich auch heute machen. Was ist für Sie ganz persönlich Gerechtigkeit?

Schöne: Das ist tatsächlich eine sehr interessante Frage und auch gar nicht so einfach zu beantworten. Gerecht – viele Menschen denken, wenn alle die gleichen Ressourcen mit gleichen Möglichkeiten – Möglichkeiten in Anführungsstrichen – bekommen, dann wäre das gerecht. Tatsächlich sind aber die Ausgangsvoraussetzungen für alle Menschen verschieden und insbesondere für Menschen aus benachteiligten Personengruppen. Und daher ist gerecht, ein Ausgleich von Ressourcen zu schaffen. Also überhaupt sich klarzumachen, was bedeutet Chancengleichheit, die gleichen Möglichkeiten zu haben, dieselbe Sache zu machen.
Ich zum Beispiel jetzt mit meinem Auslandsstudium, was ich an der Universität Bologna mache, habe bisher nicht wirklich viele andere behinderte Menschen angetroffen, die das Gleiche machen.
Es gibt ungefähr ein Prozent der Studierenden mit Behinderung, die das Erasmus-Programm machen. Das habe ich auch gemacht, 2015/16. Und ein Auslandsstudium, also ein komplettes Studium im Ausland, gibt es fast gar nicht. Das zeigt auch, dass die Ausgangsvoraussetzungen eben hier nicht die gleichen sind. Es ist nicht so, dass ich hier an der Universität Bologna noch nie irgendjemanden aus Deutschland getroffen hab‘, hier sind sehr viele Deutsche tatsächlich. Aber ich finde niemanden, der oder die auch eine Behinderung hat. Und das finde ich dann schon ziemlich auffällig. Und das merke ich auch stark in meinem Studiumsalltag.

Schön: Das heißt, Sie treffen auch gar nicht auf italienische Menschen, die körperliche Einschränkungen haben?

Schöne: Teils schon, aber auch nicht so oft. Das liegt natürlich auch daran, meine Fakultät liegt noch zusätzlich auf einem Hügel, für Leute mit einer Gehbehinderung jetzt nicht besonders positiv, auch für mich nicht unbedingt, das ist schon sehr anstrengend. Und dementsprechend wird es vermutlich auch damit zusammenhängen.
Es hängt aber auch damit zusammen, dass der Universitätsalltag sehr stressig ist und sehr streng getaktet ist und das für behinderte Studierende natürlich wesentlich schwieriger ist. Also es ist schon für nicht-behinderte Studierende fast unschaffbar, muss ich ehrlich sagen. Aber wenn dann natürlich noch eine Behinderung dazu kommt, die Dinge anders gemacht werden müssen, da viel Zeit drauf geht, um überhaupt erstmal rauszufinden, kann ich in den Vorlesungssaal rein, muss der gewechselt werden. Und da muss ja dann ich mich kümmern.
Und da wären wir schon bei der Chancengleichheit und was Gerechtigkeit bedeutet, ich habe alleine schon keine Gerechtigkeit, was den Faktor Zeit angeht. In dieser Zeit können andere Studierende sich ausruhen, arbeiten oder für ihre Prüfungen lernen oder auch schlafen, was ja auch sehr wichtig ist.

Schön: Wir sprechen heute über Inklusion und Gerechtigkeit. Sie haben im Vorgespräch gesagt, dass der Begriff heutzutage etwas weichgespült ist. Was nervt Sie daran, dass heute alle über Inklusion sprechen?

Schöne: Mich nervt zum einen daran, dass vor allem Menschen über den Inklusionsbegriff sprechen, die selbst davon nicht betroffen sind und diesen dann auch für sich vereinnahmen, obwohl es nicht für sie gedacht ist. Ich wohl gemerkt vertrete auch den umfassenden Inklusionsbegriff, weil ich bin eine behinderte Frau, damit betreffen mich Themen rund um Geschlecht natürlich gleichzeitig auch, und diese lassen sich auch nicht voneinander trennen.
Es ist ein Fashion-Begriff fast geworden, wie so eine Art Trend. Wir sind ja alle so inklusiv. Und ich habe zum Beispiel auch mal gelesen, wo ein Kind mit und ohne Behinderung gemeinsam im Sandkasten gespielt haben. Das wäre eine inklusive Freundschaft. Erstens einmal die zwei Kinder haben sich einfach gut verstanden und miteinander gespielt oder vielleicht war auch einfach niemand anderes da. Man sollte da jetzt auch nicht zu viel hineininterpretieren. Vielleicht haben die Kinder das auch untereinander gar nicht so wahrgenommen, die Unterschiede in Anführungsstrichen. Wenn ich jetzt an meine Kindergartenzeiten zurückdenke, hat meine Behinderung teils schon eine Rolle unter uns Kindern gespielt, aber später eine wesentlich größere als wie ich noch im Sandkastenalter war.
Und zum anderen wird da etwas hineininterpretiert, was gar nicht nötig in dem Fall ist. Zwei Kinder spielen miteinander, sind miteinander vielleicht auch befreundet oder Freunden sich gerade im Sandkasten an.
Der andere Punkt ist, dass dann auch mit sowas wie inklusiven Spielen der Eindruck erweckt wird, man muss jetzt unbedingt ganz besonders progressiv oder modern damit sein. Was genauso falsch ist an sich. Inklusion bedeutet für mich nämlich auch, wenn sich zwei Menschen einfach nicht miteinander verstehen. Ich muss nicht jeden Menschen sympathisch finden, auch mit einer Behinderung. Dann ist es halt so.
Es hat damit etwas zu tun, dass ich die Teilhabe erfahre, dass ich in jeden Raum Zugang habe und ich da auch den Zugriff habe, wie alle anderen Menschen in dem Raum auch.

Schön: Das wäre jetzt auch meine Frage gewesen. Und was muss denn drin sein, wenn auf einer Sache Inklusion draufsteht?

Schöne: Wenn auf einer Sache Inklusion draufsteht, ist zum einen zu bedenken, dass immer auch ein Feedback möglich ist. Weil Inklusion ist auch ein Prozess in dem Sinne, dass es nie abgeschlossen ist, Menschen einzuschließen. Es können immer neue Faktoren dazukommen, sich Situationen verändern.
Das haben wir durch die Covid-19-Pandemie ja auch festgestellt. Das ist tatsächlich ein gutes Beispiel für Inklusion. Es wurden auf einmal online Angebote geschaffen, weil sie für alle Menschen nötig waren, um eine Teilhabe zu schaffen. Jetzt redet im Jahr 2023 niemand mehr über Covid-19, auch nicht über die Risikogruppe, die es immer noch gibt und deren Schutz ist nicht mehr vorhanden. Ist auch eine Frage der Inklusion, die nicht gestellt wird.
Einen anderen Punkt, diese online Angebote, die gibt es nicht mehr. Es wird auch gefeiert, dass es sie nicht mehr gibt in sehr vielen Räumen. Und das zeigt, dass es im Prinzip nur dazu da war, dass Nicht-behinderte ihre weiteren Zugänge hatten, aber nicht für alle ein Zugang geschaffen werden sollte.
Es muss also, auch wenn es weh tut, immer der Wille da sein. Weh tut in dem Sinne, da muss ich jetzt selbst aktiv werden, etwas dazulernen, meine eigenen Verhaltensweisen ändern, mich selbst zurücknehmen, dann heißt es auch, ich bin auf einem inklusiven Prozess.

Schön: In der Corona-Pandemie haben wir gemerkt, dass viele davon profitiert haben, von zu Hause aus an Bildungsangeboten teilhaben zu können, dass Prüfungsformen anders geworden sind. Aber ich denke jetzt zum Beispiel auch an den öffentlichen Raum, wenn es weniger Schwellen gibt, mehr Rampen, dann profitieren Menschen mit Kinderwagen, Menschen mit Rollatoren, Menschen mit Gehilfen genauso davon, und zwar gleichermaßen, aber eben auch Skateboardfahrende oder Inlineskater:innen. Also dieser Gedanke von inklusivem Design, von dem alle profitieren, nur das scheint oft noch nicht richtig angekommen zu.
Sie haben ja deswegen letzten Herbst ein Buch veröffentlicht mit dem Titel „Behinderungen und Ableismus“. Ich wollte Sie fragen, wie spricht man das eigentlich richtig aus, ableism, also auf Englisch ausgesprochen oder eher auf Deutsch? Ableismus? Ich muss nämlich gestehen, manchmal bin ich auch selber befangen und versuche, Begriffe nicht zu verwenden, um sie eben nicht falsch zu verwenden.

Schöne: Ich höre tatsächlich beide Aussprachen. Ich kann die Hintergründe erklären. Ableism, das ist das englische Wort, das kommt von englischen Wort to able, fähig sein. Es geht darum, die Fähigkeiten von Menschen zu beschreiben und zu bewerten und in eine Hierarchie zubringen und mit Leistungsfähigkeit und Produktivität in Zusammenhang zu bringen.
Ableismus ist dabei auch nicht in dem Sinne falsch. Ich spreche mich auch stark für eine Diskussion aus, denn wenn ich jetzt im italienischen bedenke, dort gibt es den Begriff abilismo, bedeutet genau dasselbe. Man hat aber ein italienisches Wort erschaffen dafür.
Ich finde das Inklusive in dem Sinne, da Englisch als Fremdsprache auch eine Barriere aufbaut. Wir können nicht davon ausgehen, dass jeder Mensch Englisch kann. Und es ist auch klassistisch anzunehmen, dass jeder die Sprache in dem Sinne gleich verstehen kann.

Schön: Worum geht es denn in Ihrem Buch?

Schöne: In meinem Buch geht es darum, wissenschaftliche und aktivistische Zusammenhänge zum Thema Behinderung und Ableismus, Ableismus [englisch ausgesprochen] zusammenzubringen. Ich habe teils auch eigene Erfahrungen mit eingebracht, aber gezielt kein autobiografisches Buch geschrieben. Denn zum einen, meine Arbeit fußt auf wissenschaftlicher Arbeit. Ich bin auch Lehrbeauftragte, ich gebe ein Seminar zum Thema Medienbildung und Ableismus, Ableismus [englisch ausgesprochen] und Behinderung für Lehramtsstudierende. Wo es tatsächlich sehr viel Bedarf gibt, weil es hier kaum Material auf Deutsch gibt. Genauso ging es mir auch für mein eigenes Buch. Weil es bisher nicht so viele Bücher zu diesem Thema gibt.
Ironischerweise gibt es das Wort ableism seit den 1980er Jahren und seit ungefähr – ich glaube das erste Buch, wo der Begriff vorkam und auch wissenschaftliche Grundlagen geschaffen hat von Mika Murstein ist aus dem Jahr 2018. So wirklich in die Diskussion kam der Begriff 2020. Da gab es den Hashtag #ableismTellsMe. Also Grundlagen zu beschreiben, was ist Ableismus [englisch ausgesprochen], Ableismus, Behinderung. Ich bin auch ein bisschen auf den Inklusionsbegriff eingegangen und verschiedene Dimensionen, was den Ableismus [englisch ausgesprochen], Ableismus bedeutet, wie sich dieser ausdrückt.

Schön: Können Sie uns dazu ein paar Beispiele erzählen, was Ableismus [englisch ausgesprochen], Ableismus im Alltag ganz konkret bedeutet? Sie haben gesagt, Sie haben mehrere Situationen darin geschildert. Vielleicht können Sie uns und unseren Hörer:innen da mal ein paar vorstellen, die für Sie ganz besonders prägnant sind.

Schöne: Ja, sehr gerne. Zum einen Mikroaggressionen – der Begriff wurde geprägt von Psycholog:innen, die sich mit dem Thema Rassismus auseinandergesetzt haben, also schwarze Menschen, People of Color und beschreibt kleine Handlungen, die den meisten Menschen gar nicht auffallen, die auch sehr subtil sind, aber verletzen sind. Das sind bestimmte Blicke, nehmen wir vielleicht mal das Thema anstarren. Warum starre ich die eine Person an und die andere eher nicht? Was macht es mit einem Menschen überall im öffentlichen Raum angestarrt zu werden? Es sind bestimmte Bemerkungen, Handlungen, die Personen machen oder auch nicht machen und diese haben aber auch Auswirkungen darauf, wie Menschen in Institutionen behandelt werden, also strukturelle Folgen. Sei es jetzt im Bildungssystem, sei es im Gesundheitssystem. Es wird dabei angenommen, dass die Erfahrung, die schwarze Menschen bzw. People of Color machen, bei behinderten Menschen sehr ähnlich sind, auch die psychologischen Folgen.

Schön: Was hat sich im Bereich der Inklusion in den letzten Jahren getan, vielleicht gerade auch durch die Pandemie?

Schöne: Teilweise gibt es schon Veränderungen. Für mich hat die Pandemie, beruflich gesehen, interessanterweise sehr positive Auswirkungen gehabt, weil alles online gegangen ist, auch Vorträge, auch teilweise Moderationen. Und die sind dann natürlich auch alle online gewesen. Und es war für mich wesentlich einfacher, auch die Institutionen fanden das dann ganz gut. Es ist nicht so gewesen, dass das Thema auf einmal dann von der Bildfläche verschwunden ist. Online auf jeden Fall nicht.
Im öffentlichen Raum dagegen komplett, weil die meisten behinderten Menschen in irgendeiner Weise versuchen mussten, sich zu schützen oder auch einfach vor den Folgen, wenn es zu der Triage-Situation gekommen wäre, Angst hatten, in welche Kategorie werde ich dann eigentlich eingeordnet, sozusagen. Und auch die Aggressionen im öffentlichen Raum haben zugenommen.

Schön: Sie haben jetzt eben sehr anschaulich geschildert, wie es ist, als Studierende im Ausland zu sein und zu beobachten, welche Einschränkungen man überwinden muss, um teilzuhaben. Ich frage mich, wie denn die aktuelle Situation in Deutschland aussieht. Sie haben gerade eben beschrieben, es gibt diese Mikroaggressionen, es gibt Othering, das sind Phänomene, die im Alltag Menschen mit Behinderungen an vielen Stellen begegnen. Wo müsste man denn nachbessern? Denn einerseits gibt es ja rechtliche Rahmenbedingungen, die Inklusion fördern sollen und Teilhabe ermöglichen sollen. Werden diese Gesetze nicht vollkommen ausgeschöpft oder braucht es noch mehr konkrete Handlungsanweisungen aus der Politik?

Schöne: Was sich in Deutschland ändern muss? Ja, sehr, sehr viel. Zunächst einmal beim Schulsystem, dass wir das dreigliedrige Schulsystem haben, ist an sich schon ein großes Problem, da Kinder prinzipiell von Anfang an in Kategorien eingeordnet werden und sich nicht begegnen. Allein das ist schon nicht inklusiv.
Wenn ich jetzt an meine Grundschulzeit denke. Ich musste mit zehn Jahren die Entscheidung treffen, im Prinzip, um es mal ganz plakativ auszudrücken, ob ich mal studieren werde oder nicht. Weil die Wege zum Studium durch das Abitur am Gymnasium natürlich wesentlich einfacher sind und schneller vermutlich auch als wie, wenn ich jetzt andere Wege gehen muss. Und es auch noch gewisse Kreise gibt, die diesen Weg über das Gymnasium auch wesentlich höher einschätzen. Aber um bei Inklusion bei behinderten Kindern zu bleiben, es ist ein Menschenrecht, dass…- und tatsächlich auch letztes Jahr zum ersten Mal der Öffentlichkeit zu benannt wurde, am Tag der Menschenrechte, was nicht benannt wird in der Öffentlichkeit als dieses, sondern es wird diskutiert, welche Kinder könnten denn inklusiv beschult werden oder nicht.
Als ich ein Kind war, ich wurde 2000 eingeschult, hieß es noch, dass auch ich nicht inklusiv beschulbar wäre. Ich hatte ein bisschen Glück und Eltern, die sehr gekämpft haben, dass ich auf eine Regelschule gehen konnte. Es war in keiner Weise selbstverständlich. Was mich besonders frustriert: die Erfahrungen, die ich gemacht habe, bevor es überhaupt die UN- Behindertenrechtskonvention gab, machen Kinder heute immer noch und sogar exakt dieselben Erfahrungen, was zeigt, dass das Gesetz da ist, als Menschenrecht ein Ideal, was ich einklagen, vielleicht in bestimmten Weise, kann, aber die Wege dahin über Institutionen, die sich quer stellen, extremst schwer sind. Und ohne den gleichen Zugang zu Bildung, habe ich natürlich nicht den gleichen Zugang zu einem Einkommen, von dem ich mich danach auch selbst unterhalten kann, habe ich auch dadurch nicht den Zugang, überhaupt eine Wohnung oder ein Haus mieten zu können. Wenn wir aber bei dem Thema sind, sind behinderte Menschen nochmal zusätzlich extremst eingeschränkt, weil nur 2% des deutschen Wohnraums überhaupt barrierefrei zugänglich ist. Und somit auch natürlich die Arbeitsmöglichkeiten eingeschränkt sind. Das heißt, ich kann jetzt nicht für Job XY einfach mal quer durch die Nation ziehen und dadurch natürlich nochmal sämtliche Möglichkeiten eingeschränkt werden und somit das eine das andere wiederum bedingt.

Schön: Es ist total spannend, was Sie hier gerade beschreiben. Ich habe am Wochenende bei einem Umzug geholfen, von einem befreundeten Paar, die mit einem Kind und einem Kinderwagen in eine Wohnung gezogen sind von einer Baugenossenschaft in öffentlicher Hand. Und ich war total erstaunt und geschockt, dass es keine einzige Rampe gab, dass dieser Neubaukomplex keinen Aufzug hatte und dass überall nur Treppen waren. Und das fand ich erstaunlich, denn es ist eine Wohngenossenschaft, dass ist die öffentliche Hand. Barrierefreiheit ist bei diesem Neubauprojekt kein Thema gewesen. Haben Sie da den Eindruck, dass der Gesetzgeber nachjustieren muss oder dass es eher so ist, man versucht die Schlupfwinkel, die es gibt zu nutzen, um Kosten zu sparen?

Schöne: Das mit Kosten sparen ist definitiv ein wichtiger Punkt. Das passiert ja auch beim Schulsystem. Wobei da auch einiges verdreht wird. Weil wenn wir jetzt bedenken, wieviel Geld auf das besondere, beziehungsweise Förderschulsystem kostet und zwei Schulsysteme gleichzeitig aufrechterhalten werden. Personal, Gebäude müssen ja auch erhalten werden, das kostet auch Geld. Über diese Sache diskutiert nämlich bei Inklusion auch keiner. Dass man auch da schon mal etwas einsparen könnte, wenn man das Geld dann an anderer Stelle einsetzen würde. Was auch gleichzeitig allen Kindern zugutekäme. Beim Wohnungsbau sieht da ja genauso aus, Menschen müssen, wenn sie alt sind, dann aus ihrer Wohnung womöglich ausziehen, weil sie pflegebedürftig werden und können dort gar nicht bleiben. Oder was mache ich jetzt, wenn ich mir einen Fuß gebrochen habe oder ich habe einen Unfall und ich bin querschnittsgelähmt, das ist ja nicht so, dass ein Mensch, der in eine Wohnung einzieht und nicht behindert ist, das ganze Leben lang, das so bleibt. Die meisten Behinderungen werden auch tatsächlich erworben im Laufe des Lebens.

Schön: Ich würde jetzt gerne noch mal auf ein anderes Thema umschwenken. Und zwar Sie sind Journalistin und gleichzeitig auch Beraterin für die Umsetzung inklusiver Medienkonzepte, zum Beispiel inklusiver Podcast. Wie steht es denn Allgemeinen um die Barrierefreiheit im Netz?

Schöne: Also was Barrierefreiheit im Netz angeht, es kommt darauf an, was wir betrachten. Wenn es um Social Media geht, da gibt es da jetzt schon einiges, was sich verbessert hat. Bei Twitter gibt es die Möglichkeit, Alternativtexte einzufügen. Das gibt es auch bei Instagram. Und solche Dinge gebe ich dann natürlich weiter. Beziehungsweise auch, dass es wichtig ist, bei Videos Untertitel einzufügen, die auch für alle tatsächlich wichtig sind. Wenn wir jetzt mal Social Media anschauen, schauen wir auf Instagram Videos an, die meistens mit Untertitel sind, weil die Leute sich ohne Ton anzuschalten, Video anhören. Was fehlt sind Transkripte, zu einem großen Teil. Und was auch oft ein Problem ist. Wie finde ich überhaupt barrierefreie Inhalte? Und das ist auch ein bei den öffentlich-rechtlichen Medien oft so ein Punkt, dass die barrierefreien Angebote dann nur irgendwo auf der Homepage ganz weit hinten aufzufinden sind.

Schön: Wie gelingt eigentlich Inklusion in der Medienwelt? Gibt es da viele Menschen mit einer Behinderung, die über ihre Lebenswelt beziehungsweise aus ihrer Lebenswelt berichten? Denn aus meiner Sicht ist es so, dass vielen Menschen ein Verständnis und eine Berührung mit genau diesen Perspektiven fehlt.

Schöne: Das kommt jetzt ganz darauf an, welche Medien wir betrachten. Wenn es Community Medien sind, dann definitiv ja. Aber auch nur Menschen, behinderte Menschen, die Zugriff zu Internet haben, was jetzt Menschen in behinderten Einrichtungen auch wieder ganz stark ausschließt, weil dort der Zugang, also einen eigenen Internetzugang zu haben, nicht gegeben ist. Dann gibt es natürlich je nach Behinderung auch wieder eigene Community Magazine oder auch von Aktivist:innen, „Die Neue Norm“ gilt es hier auch zu nennen, das ist ein wichtiges Magazin, was von Menschen mit Behinderung gemacht wird und wo in der Regel auch nur behinderte Menschen Autor:innen sind. Ich habe dort auch schon geschrieben.
Und wenn wir jetzt in die Mainstream Medien schauen, wird es dann schwierig. Zum einen, gibt es sehr wenige Journalist:innen mit Behinderung. Das liegt ganz stark am Zugang zu Bildung. Für den journalistischen Beruf wird in der Regel ein Hochschulstudium vorausgesetzt bzw. an einer Journalistenschule gegangen zu sein oder ein Volontariat gemacht zu haben. Und das ist sehr schwierig, weil diese Voraussetzungen für die Leistungsfähigkeit nicht-behinderter Menschen geknüpft werden, nicht für behinderte Menschen. Das heißt, brauche ich jetzt alleine solche Dinge wie Physiotherapie oder ich muss bestimmte Zeiten einhalten, weil ich sonst kein Mobilitätsservice mehr von der Bahn bekomme. Aus meiner Heimatstadt kann ich da berichten, bis 22:00 Uhr vielleicht noch 22:30 Uhr, dann ist Schluss. Wenn ich jetzt in der Journalistenschule bin und ich muss eine Nachtschicht einlegen und komme um 02:00 Uhr nachts an, dann komm ich nicht aus dem Zug. Das kann alleine schon an solchen Dingen scheitern, wo nicht-behinderte Menschen einfach nicht daran denken müssen, beziehungsweise, dass auch einfach bestimmte Ruhephasen eingehalten werden müssen, um die Ressourcen des eigenen Körpers zu erhalten.
Was oft vorkam als ich angefangen habe als Journalistin zu arbeiten, dass ich Erfahrungsberichte schreiben sollte. Das ist eigentlich sogar recht klassisch, dass behinderte Menschen darüberschreiben sollen, was sie mit ihrer Behinderung hier oder da erlebt haben. Und hier ist ein Problem, dass dann oftmals aber auch ableistische [englisch ausgesprochen], ableistische Phänomene herauskommen oder von mir erwartet werden, solche Dinge zu schreiben, die ich als behinderter Mensch gar nicht sehe, als Inspiration wahrgenommen zu werden. Da gibt es ein Begriff, das heißt Inspirationporn, der wurde von der Behindertenrechtsaktivistin Stella Young aus Australien geprägt. Und bedeutet; ein banales Beispiel: ich fahre Bus und steige dann mit meinem Dreirad, was ich zur Fortbewegung nutze, ein und eine Person sagt, es ist ja so toll, dass ich auch Bus fahre. Im Prinzip geht es der Person nicht darum, dass ich irgendwas Besonderes mache, weil für mich ist das nichts Besonderes, sondern sich selbst zu erhöhen quasi. Wenn ich sehe, was Sie für große Probleme in Ihrem Leben haben, dass eben in meinem Leben alles super ist. Und das ist halt sehr herablassend.
Also ich kann halt nicht, wenn ich einer Person begegne, von Anfang an davon ausgehen, dass die Person das nicht kann. Es wird mir auch damit ein Defizit zugesprochen.

Schön: Was müsste sich denn da gesellschaftlich zukünftig ändern? Also vor allem auch durch den Gesetzgeber. Denn das eine ist ja, dass Gesetze den Rahmen schaffen, mit dem Politik wirksam werden kann. Das andere ist aber, dass diese Gesetze dann auch umgesetzt werden oder eingefordert werden oder dass die Gesetze gelebt werden, auch von der Zivilgesellschaft. Was wünschen Sie sich denn da für die Zukunft?

Schöne: Flächendeckende Barrierefreiheit wäre der Punkt. Menschen müssen sich begegnen und dann auch Dinge miteinander ausdiskutieren und auch streiten können. Eines der größten Probleme ist, dass sich nicht-behinderte und behinderte Menschen im Alltag kaum begegnen und daher auch einfach die ganzen Berührungsängste zum einen bestehen. Behinderte Menschen ständig in der Rolle sind, dass sie selbst erklären sollen, was sie können oder nicht können und ihnen auch damit emotionale Arbeit aufgeladen wird, die nicht die Arbeit von behinderten Menschen allein sein soll. Inklusion, Barrierefreiheit ist keine Einbahnstraße.
Es müssen sich auch nicht-behinderte Menschen dazu einbringen, zum Beispiel, dass das Café um die Ecke eine Rampe bekommt. Das ist nicht nur jetzt meine Aufgabe. Also diese Frage sich auch zu stellen, wieso seh‘ ich hier eigentlich keine behinderten Menschen. Das heißt nicht, dass sie nicht da sein wollen, aber wenn da Treppenstufen davor sind, warum soll jetzt ein gehbehinderter Mensch sich unbedingt das Café aussuchen, wenn ich vielleicht in der nächsten Straße eins ohne Treppenstufen auffinde. Diese Fragen beantworten sich damit auch durchaus von selbst.

Schön: Wenn sich unsere Hörerinnen und Hörer jetzt engagieren möchten und einerseits sagen, okay, rechtliche Gleichstellung und Teilhabegesetze schön und gut, aber ich möchte mich stark machen für deren Umsetzung im Alltag. Gibt es Initiativen, die Sie empfehlen können, bei denen sich unsere Hörerinnen und Hörer engagieren können, wenn sie mehr für Inklusion und mehr für Barrierefreiheit in ihrem Alltag tun wollen?

Schöne:  Auf jeden Fall die Sozialheld:innen aus Berlin, die haben sehr vielfältige Initiativen geschaffen. Es gibt die App Wheelmap, die kann sich jede Person aufs Handy runterladen und auch Orte markieren, ob sie barrierefrei sind oder nicht. Auch was wichtig natürlich ist, sich selbst erst mal reflektieren, was verstehe ich selbst unter barrierefrei oder nicht. Das, was die eine Person vielleicht als Schwelle wahrnimmt, heißt nicht, dass es für die andere eine ist. Aber ja, 20 Zentimeter sind, wenn ich jetzt ein Rollstuhl nutze, einfach ein Problem. Das nimmt jetzt vielleicht eine nicht-gebehinderte Person nicht wahr.
Ein anderer Punkt ist an junge Menschen gerichtet, wenn wir über Inklusion oder prinzipiell Diskriminierungsformen reden, dass die Menschen, die betroffen sind davon, auch die Oberhand behalten müssen, was für Themen werden angesprochen und wer steht auf der Bühne. Und nicht, dass dann am Ende wieder nicht-behinderte über behinderte Menschen reden, so wie es schon die ganze Zeit vorher war. Dass ist nicht die Bühne von Nicht-behinderten, das müssen sich Nicht-behinderte klarmachen.

Schön: Ich danke Ihnen ganz herzlich für das nette Gespräch und wünsche einen schönen Nachmittag und verlinke gerne alle Hinweise auch nochmal in unseren Shownotes zu den Initiativen für unsere Hörerinnen und Hörer. Vielen Dank Frau Schöne!

Schöne: Sehr gerne.

[kurze musikalische Zwischensequenz]

Welchen Einfluss haben Gesetze auf Teilhabe? – Interview mit Fachberater Stefan Flach-Bulwan

Schön: Habt ihr noch die Umfrage vom Anfang dieser Folge im Ohr? Dann habt ihr auch Lukas Krämer gehört. Er ist YouTuber und hat 2021 die Initiative #StelltUnsEin! gestartet.

Krämer: 1,35€ – ist dieser Stundenlohn für Menschen mit Behinderung gerecht? Ich sag ganz klar: nein, das ist nicht gerecht!

Schön: Bei der ging es darum, Menschen, die in Behindertenwerkstätten arbeiten, den gesetzlichen Mindestlohn für ihre Arbeit zu zahlen. Lukas Krämer hat selbst nämlich fünf Jahre in einer Behindertenwerkstatt gearbeitet und zwar für 1,35€ die Stunde. Am Ende des Monats ging er mit bis zu 250€ nach Hause und das trotz Vollzeitjob. Lukas ist mit seinem Anliegen nicht allein. Doch den Lohn einfach so zu erhöhen, ist gar nicht so einfach, denn wer in einer Werkstatt für behinderte Menschen beschäftigt ist, gilt rechtlich gesehen nicht als Arbeitnehmer, sondern hat eine arbeitsrechtliche Sonderstellung. Man bekommt eine Aufwandsentschädigung plus staatliche Hilfe für Lebensunterhalt und Miete. Eigentlich sollte die Arbeit in einer Werkstatt Menschen mit Behinderung, und zwar die, die das dann auch wollen, für den allgemeinen Arbeitsmarkt qualifizieren, da gibt es ja dann Mindestlohn. Realistisch gesehen haben sie da aber kaum Chancen drauf und das obwohl öffentliche sowie private Arbeitgeber:innen ab einer Mitarbeitendenzahl von 20 Personen mindestens 5% ihrer Arbeitsplätze mit gleichgestellten oder eben schwerbehinderten Menschen besetzen müssen. Bei einem Team von 20 Menschen wäre das eine Person. Dass viele Unternehmen noch weit davon entfernt sind, diese Quote einzuhalten, das merkt ihr selbst, wenn ihr mal in eure eigenen Teams schaut.
Aber trotzdem, es ist total wichtig, seine Rechte zu kennen und dafür einzustehen. Davon kann auch Stefan Flach-Bulwan ein Lied singen. Er leitet nämlich das Projekt „Recht haben, Recht bekommen“, der Beratungsstelle für Menschen mit Behinderung in Magdeburg. Karitative und soziale Einrichtungen wie die sind oft erste Anlaufstellen für Betroffene. Welche Fragen ihnen in der Beratung unter den Nägeln brennen und wo der Einfluss von Gesetzen vielleicht eben auch begrenzt ist, darüber wollen wir jetzt sprechen.

[kurze musikalische Zwischensequenz]

Schön: Lieber Herr Flach-Bulwan, ich freue mich sehr, dass Sie heute bei uns sind. Unsere Hörerinnen und Hörer kennen das ja schon von mir. Ich stelle meinen Gästen in jeder Folge zu Beginn immer ein und dieselbe Frage und das mache ich heute natürlich auch. Was ist für sie gerecht?

Flach-Bulwan: Hallo zusammen! Die schwierigste Frage offenbar am Anfang. Ich versuche es mal ganz kurz und knapp. Gerecht bedeutet für mich, dass alle Menschen gleichbehandelt werden. Die Schwierigkeit dabei ist jedoch, dass nicht alle Menschen gleich sind. Für unser Thema ist es heute…- 11 Millionen Menschen in Deutschland leben mit einer Behinderung und das ist ziemlich ungerecht.

Schön: Menschen mit Behinderung haben in Deutschland einen rechtlichen Anspruch auf volle und gleichberechtigte Teilhabe. Wie aber sieht dieser Anspruch in Realität tatsächlich aus? Also wird Teilhabe wirklich ermöglicht?

Flach-Bulwan: Ich denke, im Grundgesetz ist sowohl das Benachteiligungsverbot verankert, Menschen mit Behinderung dürfen nicht benachteiligt werden. Als auch die Würde beschrieben und jeder Mensch hat dieselbe Würde, ob behindert oder nicht-behindert. Das heißt, die Gesetze müssen dafür sorgen, dass alle zu ihrem Recht kommen, unabhängig von einer möglichen Behinderung.

Schön: Und wie sieht es dann in der Realität aus? Sie arbeiten ja bei einer Beratungsstelle, die sich explizit an Menschen mit Behinderung richtet und vermitteln, welche Rechte Menschen mit Behinderung haben und wie sie sie durchsetzen können. Mit welchen Anliegen wenden sich Betroffene denn an die Beratungsstelle in Magdeburg und welche Themen und welche Alltagserfahrungen stehen da im Vordergrund?

Flach-Bulwan:  Sie sagen es ja schon. Ein Recht zu haben heißt noch lange nicht das Recht auch zu bekommen. Ja, mit welchen Themen kommen Menschen zu uns? Das beginnt bei der Anerkennung der Behinderung, also auch der Ausstellung, beispielsweise eines Schwerbehindertenausweises, der Eintragung von sogenannten Merkzeichen, die dann helfen sollen, Nachteile auszugleichen, die man wegen seiner Behinderung hat. Menschen kommen zu uns wegen der Anerkennung von Pflegebedürftigkeit, also der Feststellung eines Pflegegrades. Und sie merken schon, diese Anerkennungen haben immer etwas damit zu tun, dass der Mensch einen Leistungsanspruch hat oder umsetzen will. Menschen suchen vielleicht eine barrierefreie Wohnung, also ohne Schwellen, mit breiteren Türen, ohne Stufen, mit einer ebenen Dusche. Andere Menschen haben seltene Erkrankungen, weil diese Erkrankungen eben selten sind, stehen sie in keinen Verordnungen. Nirgends steht, was dieser Mensch für Ansprüche hat, welche Leistungen er in Anspruch nehmen kann und dann bekommt er nichts. Manche Menschen brauchen Hilfen in der Zusammenarbeit mit Behörden, einen Antrag zu stellen oder wenn sie einen Bescheid bekommen, dass ihnen jemand überhaupt erklärt, was steht in diesem Bescheid eigentlich drin, was bedeutet das. Manchmal wollen sie sich wehren, weil sie sich ungerecht behandelt fühlen. Andere brauchen Tipps, wie sie einen guten Arbeitsplatz finden oder wie sie einen Arbeitsplatz vielleicht behalten können und ob der speziell ausgestattet werden kann.

Schön:  Sie beraten Menschen mit Behinderungen also dabei, ihren Alltag und ihr Leben mit der ihnen zustehenden Unterstützung eigenverantwortlich nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Wie wichtig ist Selbstständigkeit für Teilhabe?

Flach-Bulwan: Solange sich große Träger der Wohlfahrtspflege behinderter Menschen vor allem angenommen haben, eher auch unter einem Fürsorgegedanken, da wurden Anträge gestellt, Bescheide erlassen und da wurde eine Leistung gewährt. Bei mir kommen Menschen in die Beratungsstelle und nachdem die letzten 20 Jahre irgendjemand das alles für sie gemacht hat, wissen sie gar nicht, dass ein Antrag gestellt werden muss, dass ein Kostenträger gesucht werden muss. Das heißt, sie haben auch überhaupt keinen Einblick oder häufig keinen Einblick, wie läuft eigentlich das Verfahren ab. Das ist natürlich, ja vielleicht nett verstandene Fürsorge, aber es ist eine Bevormundung, man hat das den Menschen abgenommen. Und hat ihn damit auch hilflos gemacht.

Schön: Gegen diese Hilflosigkeit wollen Sie vorgehen und haben gerade eben schon den Grundrechtsanspruch auf Teilhabe angesprochen. Die Rechtsgrundlage für die Inklusionsmaßnahme für Menschen mit Behinderung, die findet man in unserem Grundgesetz in Artikel 3, Absatz 3, Satz 2. Wie haben sich die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Laufe der Zeit entwickelt und wie wird der Auftrag in Artikel 3 ganz konkret in Maßnahmen übersetzt?

Flach-Bulwan: Tatsächlich ist dieser Artikel 3 im Grundgesetz, den Sie schon angesprochen haben, also der Satz: niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden, der ist jetzt seit fast 30 Jahren dort enthalten. Das ist eine lange Zeit. Der ist übernommen aus dem Körperbehindertengesetz. Aber auch bevor dieser Artikel 3, Absatz 3 eingeführt wurde, stand natürlich die Würde längst im Grundgesetz. Es ist eher zu hinterfragen, warum braucht es diese Differenzierung? Nochmal musste unterschieden werden, dass ein Mensch mit Behinderung nicht benachteiligt werden darf, weil er offenbar bis dahin benachteiligt wurde, weil niemand gesagt hat, das ist ein gleichwertiger und gleichwürdiger Mensch. Und auch heute, fast 30 Jahre nach Artikel 3, leben Menschen, die es nicht wollen immer noch in Heimen. Heute nennen wir das „besondere Wohnformen“. Vielleicht leben diese Menschen in einem Doppelzimmer und können nicht einmal mitbestimmen, wer mit ihnen zusammen im Zimmer wohnt. Das müssen Sie sich vorstellen, Sie kämen ins Hotel, checken ein und bekommen ein Vierbettzimmer mit drei wildfremden Menschen zugewiesen, aber nicht für eine Nacht oder ein Wochenende, sondern für die nächsten 20 Jahre.
Diese Menschen können also häufig nicht entscheiden, mit wem sie wohnen, wer sie pflegt, wer sie begleitet. Sie haben häufig genug keinen Zugang zum Internet oder zu anderen Informationstechnik, sie haben keinen Arbeitsplatz mit Mindestlohn und sie können auch nicht mit dem Rollstuhl zum Bäcker, weil das Geschäft drei Treppenstufen hat und weil sie auch nicht in die Straßenbahn kommen.

Schön: 2009 trat die UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland in Kraft. Die stellt klar, dass Menschen ein Recht auf selbstbestimmte Teilhabe in allen Lebensbereichen haben. Was hat sich seitdem getan?

Flach-Bulwan: In Deutschland wird das umgesetzt durch das Behindertengleichstellungsgesetz, durch das Bundesteilhabegesetz. Und damit wird klar: die Benachteiligung von Menschen mit Behinderung ist zu beseitigen, zu verhindern oder da, wo das nicht möglich ist, auszugleichen, um den Menschen ein selbstbestimmtes, möglichst selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen. Niemand kann beispielsweise gezwungen werden, in einem Heim zu leben, wenn er das nicht möchte. Aber niemand kann auch gezwungen werden, in der eigenen Wohnung zu leben, wenn er sagt, ich bin seit 30 Jahren in einem Heim und das ist für mich okay, da fühle ich mich wohl, da kenne ich mich aus, da möchte ich bleiben. Es muss diese Möglichkeit geben, selbst zu entscheiden.

Schön: Haben die Gesetze was gebracht oder ist das ein Feigenblatt für die Politik gewesen?

Flach-Bulwan: Ich würde es nicht ein Feigenblatt nennen. Ich denke, vor diesen Gesetzen war häufig genug überhaupt nicht klar, wo werden Menschen mit Behinderung benachteiligt? Diese Gesetze haben dazu geführt, dass uns diese Inkompetenz, die wir im Umgang mit Menschen mit Behinderung in der Öffentlichkeit haben, dass die bewusst wurde.

Schön: Was mich auch dazu bringt, dass zu den 11 Millionen Menschen in Deutschland, die heute mit einer Behinderung leben, ja gar nicht 11 Millionen mit einer Behinderung auf die Welt gekommen sind, sondern erst im Laufe ihres Lebens eine Behinderung erlangen. Würden Sie sagen, dass diese unverhoffte Betroffenheit bei vielen Menschen dann ein Umdenken auslöst?

Flach-Bulwan: Also ich stimme erstmal zu, die meisten Behinderungen werden tatsächlich im Laufe des Lebens erworben, nur ein ganz geringer Teil ist tatsächlich angeboren oder bei der Geburt erworben. Das heißt, wir leben in einer älter werdenden Gesellschaft. Die wird älter, nicht unbedingt gesünder und wir alle miteinander leben natürlich mit einem Risiko. Wir sind manchmal nur eine kleine Diagnose von einer schweren Behinderung entfernt, manchmal nur einen Autounfall davon entfernt, uns nicht mehr bewegen zu können, manchmal nur eine kurze Zeitspanne noch davon entfernt, an einer Demenz zu erkranken. Das Risiko, im Laufe des Lebens Beh