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Demonstration vor dem Präsidentenpalast unter dem Motto „Freie Gerichte, freie Wahlen, freies Polen" in Warschau, 24. Juli 2017 (Foto: Piotr Wójcik/Picture Doc)

„Freie Gerichte,
freie Wahlen,
freies Polen“

Die rechtskonservative Regierung der Partei PiS („Prawo i Sprawiedliwość“ / „Recht und Gerechtigkeit“) baute zwischen 2015 und 2023 das polnische Justizsystem grundlegend um.

Schrittweise veränderten ab 2016 Justizreformen die Arbeitsbedingungen für Staatsanwält:innen und Richter:innen. So mussten sie zum Beispiel ab 2018 mit Zwangsversetzungen und Suspendierungen durch eine neugeschaffene Disziplinarkammer rechnen. Damit schaffte die PiS de facto die Unabhängigkeit der Justiz in Polen ab.

Verschiedene Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen stellten sich diesen Eingriffen entgegen. Die Reformen der polnischen Justiz führten ab 2017 zum Konflikt mit der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof und lösten wiederholte Proteste der Bevölkerung aus.

Engagement für den Rechtsstaat im Fokus

Piotr Wójcik, langjähriger Fotojournalist der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza und Hochschuldozent, nahm dieses Engagement als Ausgangspunkt für das Fotografie-Projekt Sprawiedliwość: „Ich habe daraufhin beschlossen, die Profile dieser Personen zu dokumentieren und zu präsentieren, die den Mut hatten, ‚Nein‘ zur Zerstörung des Rechtssystems in Polen zu sagen.“ Die Bilder und Interviews mit den polnischen Jurist:innen entstanden von 2020 bis 2021. Gemeinsam mit der Fundacja Picture Doc zeigt die Stiftung Forum Recht diese erstmals in Deutschland an ihren Standorten in Karlsruhe und Leipzig.

In Kooperation mit der Fundacja Picture Doc

Justizreformen (2015-2024)

„Zostańcie“ – „Bleibt“

„[…] Richter:innen und Staatsanwält:innen sind jetzt die Angeklagten. Sie sind es, die Verteidiger:innen brauchen.“ Diese Aussage stellte 2021 die polnische Journalistin Ewa Siedlecka der Ausstellung Piotr Wójciks voran. In einem Video fängt er die Stimmung der Demonstrierenden ein, die für Richter:innen und Staatsanwält:innen auf die Straße gehen. Und die Jurist:innen ermutigen – trotz politischen Drucks – zu bleiben.

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Staatsanwält:innen unter Druck

Die Journalistin Ewa Siedlecka beschreibt die Situation der Staatsanwält:innen in Polen 2021 als besonders dramatisch. 2016 schaffte ein Gesetz des Parlaments die Grundlage für die Verschmelzung des Amtes des Justizministers und der Generalstaatsanwaltschaft. Dem Justizminister steht es dadurch offen, in staatsanwaltschaftliche Ermittlungen einzugreifen. Staatsanwält:innen, die etwa der unabhängigen Vereinigung „Lex Super Omnia“ („Gesetz über alles“) angehören, wurden teils an entlegene Gerichte versetzt oder mit Disziplinarmaßnahmen belegt.

Das Porträtfoto einer blonden Frau mit schwarzer Brille, die in schwarz-roter Robe leicht herausfordernd in die Kamera blickt.

Katarzyna Kwiatkowska

Staatsanwältin seit 1991 
Bezirksstaatsanwaltschaft
Warschau-Praga

„Zunächst wurden diese 113 Staatsanwält:innen degradiert. Die Referatsleiter:innen wurden ersetzt. Die Amtszeiten wurden abgeschafft. Auswahlverfahren wurden abgeschafft. Es wurde ein Kader von Staatsanwält:innen geschaffen, die der Führung der Staatsanwaltschaft treu dienen und ihr gegenüber sehr loyal sind. Die Art des Managements zeigt, dass die Führung die Staatsanwaltschaft von einem autonomen Organ des Staates in eine Art uniformierten Sonderdienst verwandeln will. Dies soll nach dem Prinzip „es gibt einen Befehl, du hast ihn zu befolgen und nicht zu widersprechen“ geschehen. Und das hat mit einer Staatsanwaltschaft, geschweige denn einer europäischen Staatsanwaltschaft, nichts mehr zu tun.“

Das Porträtfoto eines mittelalten Mannes mit grauem Haar, der in schwarz-roter Robe ernst in die Kamera blickt.

Jarosław Onyszczuk

Staatsanwalt seit 1998
Bezirksstaatsanwaltschaft
Warschau-Mokotów

„Ich habe keine Angst vor Vergeltungsmaßnahmen bei der Staatsanwaltschaft, auch nicht vor einem Versuch, mich aus dem Beruf zu entfernen. Mental habe ich diese Schwelle der Besorgnis oder Angst bereits überwunden. Auf viele Dinge, wie die Abordnung, bin ich vorbereitet. Ich kann jedes Jahr in irgendeine Einheit versetzt werden und ich kann es ganz sicher aushalten. Es wird mich nicht brechen und es wird meine Überzeugung der Rechtsstaatlichkeit oder meine Kritik an negativen Entwicklungen der Staatsanwaltschaft nicht ändern.“

Katarzyna Szeska hat die Betrachtenden fest im Blick. Doch die Komposition von Piotr Wójcik, wie sie in der physischen Ausstellung zu sehen ist, zeigt mehr. Drei Miniaturen im rechten oberen Bildrand zeigen die Staatsanwältin im Profil. Wir blicken auf sie – im Profil kann sie diesen nicht erwidern. Die rahmende Farbe greift das Rot der staatsanwaltlichen Robe auf – und verweist auf ihr Amt. Doch das Zusammenspiel aus Miniaturen und Porträt erinnert eher an erkennungsdienstliche Bilder. Damit verweist Wójcik auf die Verkehrung der Rollen durch die Justizreformen in Polen für Staatsanwält:innen. 

Foto einer Frau vor in schwarz-roter Staatsanwaltsrobe. Sie blickt ernst in die Kamera. Am rechten oberen Bildrand sind drei weitere Profilaufnahmen zu sehen.
Staatsanwältin Katarzyna Szeska (Foto: Piotr Wójcik / Picture Doc)

„Die Staatsanwaltschaft war in den 20 Jahren, in denen ich sie von innen beobachte, immer ein wunderbares Spielzeug in den Händen der Politiker. Wer auch immer an die Macht kam, bekam dieses wunderbare Spielzeug.
Es muss eine mentale Revolution in unserer politischen Klasse geben. Ohne unabhängige Gerichte und eine unabhängige Staatsanwaltschaft werden wir niemals einen Rechtsstaat haben. Ich bin eine Idealistin und ich träume von dem Ideal einer Staatsanwaltschaft ohne diese politische Kappe.“

Freiheiten garantieren, Rechte respektieren

Dorota Zabłudowska

Richterin seit 2002
Landgericht Danzig

„Der Staat ist dazu da, den Bürger:innen zu dienen, sie zu schützen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, ihre Freiheiten zu garantieren und ihre Rechte zu respektieren. Und ich wage zu behaupten, dass von den Kriterien, die ich aufgezählt habe, ich nicht weiß, ob irgendeines von ihnen im Moment so hundertprozentig erfüllt wird.“

Eine blonde Frau in lila Sakko steht in der Eingangshalle eines Gerichtsgebäudes und blickt freudig in das auf die herabfallende Sonnenlicht. Sie hat die schwarz-lila Richterinnenrobe mit goldener Kette und Adlerwappen über ihren rechten Unterarm geworfen.

Der Fall Igor Tuleya

Seit 1996 ist Igor Tuleya Richter. Unter anderem seine vehemente Kritik an der Justizreform machte ihn in Polen, aber auch international, bekannt. Die sogenannte Disziplinarkammer wurden 2017 gegründet. Tuleya wurde 2020 durch sie für beinahe zwei Jahre suspendiert und verlor seine richterliche Immunität. Die Disziplinarkammer ist mittlerweile wieder aufgelöst. Seit 2022 ist Tuleya wieder als Richter tätig. Die Bilder und das Zitat entstanden in der Zeit von 2020 bis 2021.

Der in einen eleganten Anzug gekleidete Richter sitzt inmitten zweier hüfthoher Stapel an Dokumenten auf einem Stuhl. Die schwarze Richterrobe hinter sich abgelegt, und mit aufgeschlagenem Buch auf den Beinen denkt er versonnen nach.

Richter seit 1996
Landgericht Warschau

„Wir mögen machtlos sein, aber wir sind nicht wehrlos. Und heute, und das werde ich immer sagen: Es lohnt sich, die Werte zu verteidigen. Und für ihre Verteidigung lohnt es sich, jeden Preis zu zahlen. Solange wir kämpfen sind wir Gewinner. Es gibt Sonnenschein hinter den Wolken und selbst nach der längsten Nacht kommt ein neuer Tag. Davon bin ich überzeugt.“

Foto von sechs Personen, die in Herbstkleidung vor einem großen Plakat stehen. Die meisten haben entschlossen die Arme vor sich verschränkt. Das Plakat fordert Freiheit für die Justiz in Polen, zudem ist ein Kontefei des Richters Igor Tuleya abgebildet

Am 20. Januar 2021 kam es zu einer Demonstration und Pressekonferenz gegen den Fall vor dem Gebäude der Generalsstaatsanwaltschaft in Warschau. Zu sehen sind unter anderem Igor Tuleya (Mitte), Richter Krystian Markiewicz und Anwalt Michał Wawrykiewicz.

„Jurist:innen guten Willens“

Eine „Koalition von Jurist:innen guten Willens“ – so bezeichnete 2021 die polnische Journalistin Ewa Siedlecka die Gruppe der Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen, die sich beharrlich für die Prinzipien des Rechtsstaats engagieren. Sie generierten Öffentlichkeit für den Rechtsstaat unter Druck und verteidigten Richter:innen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen.

Richter:innen unter Druck

Nicht zuletzt durch die Einrichtung der Disziplinarkammer sahen sich Richter:innen in Polen zusehends unter Druck. Der Fotograf Piotr Wójcik beschreibt, dass Richter:innen durch die rechte Presse, aber auch die von der PiS-Partei unterstützen öffentlich-rechtlichen Medien diffamiert wurden.

Die Journalistin Ewa Siedlecka beschreibt, vor welchem Hintergrund dies möglich war: „Die Arbeitsweise der Justiz wird in Polen seit den frühen 1990er Jahren heftig kritisiert, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht.“  Dem Druck etwa durch die Disziplinarkammer ab 2017 trotzen einige Richter:innen: „Sie machten die Unabhängigkeit zum Synonym für die Würde der Justiz. Paradoxerweise hat die verfassungsfeindliche PiS-Partei die Richter:innen, die sich jahrelang geweigert hatten, sich bei ihren Urteilen auf die Verfassung zu berufen, zu der Erkenntnis gebracht, dass ihre Macht und Stärke auch in der Anwendung der Verfassung liegt. […] Der Preis dafür ist ein Disziplinar- sowie Strafverfahren und der Verlust der Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben.“

In ihren Gesprächen in der Zeit von 2020 bis 2021 mit dem Fotojournalisten Piotr Wójcik gaben diese Richter:innen Einblick in ihre persönliche Sicht auf die Entwicklungen. Aber auch auf das Richteramt und den Rechtsstaat.

Foto einer Richterin mit schulterlangem, blonden Haar. Sie trägt eine schwarz-rote Robe mit Goldener Kette und dem polnischen Wappenadler und blickt sich nachdenklich in einem Gerichtssaal um

„Die Richter:innen haben es tunlichst vermieden, sich in alltäglichen Situationen zu zeigen, z.B. bei der Gartenarbeit oder beim Aufpumpen eines Fahrradreifens vor einem Supermarkt.
Und das hat sich zu unserem Nachteil ausgewirkt. Denn da niemand uns von dieser menschlichen, normalen Seite kennt, ist es wirklich einfach, den Charakter eines so schrecklichen Richters oder einer Richterin zu erschaffen.“

Joanna Hetnarowicz-Sikora
Richterin seit 2006
Bezirksgericht Słupsk

Foto einer Richterin in schwarz-lila Robe, die durch ihre Brille etwas verbittert an der Kamera vorbeischaut. Sie befindet sich in einem Gerichtssaal und trägt eine große, goldene Kette mit polnischem Adlerwappen.

„Wir werden nicht länger still sein und tatenlos zusehen, wie die Rechtsstaatlichkeit zerstört wird. Eine von den Machthabern völlig unvorhergesehene  Nebenwirkung ihres Handelns ist dieser bereits bestehende Widerstand der Justiz, einer Gemeinschaft, die einmütig und gemeinsam – Schulter an Schulter – für die Bürger:innenrechte kämpft. Niemand hat damit gerechnet, denn jahrelang waren wir nicht darauf vorbereitet.“

Beata Morawiec
Richterin seit 1990
Landgericht Krakau

Foto eines Richters, der in schwarz-lila Robe und mit goldener Adlerwappen-Kette an einem Fenster sitzt und nachdenklich aus dem Raum heraus nach draußen blickt. Wir wissen nicht, was er dort sieht.

„Wenn wir eine Regierung und ein Parlament aus einer einzigen Partei haben, was fehlt diesen politischen Organen dann zur vollen Macht? Nur die Gerichte. Wenn eine politische Gruppierung über eine Mehrheit im Parlament, eine eigene Regierung und einen Präsidenten der gleichen politischen Überzeugung verfügt, kann sie nur befürchten, einen Fall vor Gericht zu verlieren. Denn hier haben sie es mit einem oder einer unabhängigen Richter:in zu tun, der oder die sich nur vom Gesetz leiten lässt und den Streit unparteiisch und nicht immer zugunsten der politischen Macht entscheidet.“

Bartłomiej Starosta
Richter seit 2008
Bezirksgericht Sulęcin

Foto eines Mannes, der im Anzug vor einem beladenen Schreibtisch sitzt und Dokumente in seinen Händen hält- Im Hintergrund hängt seine Richterrobe und -kette.

„Für mich ist die Verfassung ein Schutzschild, um die Rechte und Freiheiten der Bürger:innen zu verteidigen. Sie soll jede Regierung in Schach halten, damit diese nicht zu einer erdrückenden Macht über die Bürger:innen wird und damit die Rechte aller – auch derer, die in der Minderheit sind – geschützt werden. Sie ist ein Vertrag, den wir als Gesellschaft geschlossen haben und an den wir uns alle – insbesondere die Regierung – halten müssen.“

Bartłomiej Przymusiński
Richter seit 2007
Bezirksgericht Posen – Stare Miasto

Und Jetzt?

Piotr Wójcik porträtierte die Jurist:innen von 2020 bis 2021. Mittlerweile wurde die Disziplinarkammer wieder aufgelöst. Die Neuwahlen in Polen im Herbst 2023 veränderten die Mehrheiten im Parlament – und erteilten der PiS-Partei nach neun Jahren Regierungszeit eine Absage. Ist damit wieder alles rückgängig gemacht? Welches Erbe haben die Proteste und Erfahrungen dem polnischen Rechtsstaat gegeben? Hören Sie hier den Perspektiven drei der porträtierten Jurist:innen zu, die Piotr Wójcik exklusiv für die Stiftung Forum Recht 2024 erneut interviewte.

Staaatsanwältin Katarzyna Kwiatkowska

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Richter Igor Tuleya

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Anwalt Radosław Baszuk

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Wie selbstverständlich ist richterliche Unabhängigkeit? Was macht gute Richter:innen aus? Und warum lohnte es sich dafür einzustehen? Die Bilder und Zitate, die Piotr Wójcik präsentiert, regen zum Nachdenken und zum Austausch an. Genau dazu luden wir vom 16. Februar bis 07. April 2024 in unsere Räume nach Karlsruhe und Leipzig ein. 

Was passiert, wenn die Politik versucht, den Rechtsstaat zu untergraben? Piotr Wójciks Porträtfotografien polnischer Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen, die sich gegen die Aushöhlung des polnischen Rechtsstaates stellten, zeigten unserem interessierten Publikum auf eindrucksvolle Weise: Für den Erhalt des Rechtsstaats bedarf es immer auch den Einsatz der:des Einzelnen!

Aufzeichnung des Diskussionsabends „Polen nach den Parlamentswahlen: Wie kann ein Rechtsstaat wieder aufgebaut werden?" vom 7. März 2024