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Interview: Gerechtigkeit auf großer Leinwand

Kann ein Kinosaal zum Diskussions- und Begegnungsraum über Gerechtigkeitsfragen werden?

Über Recht und Gerechtigkeit zu diskutieren und reflektieren – kann das vom Kinosessel aus gelingen? Ein Jahr lang – von November 2022 bis November 2023 – luden die Stiftung Forum Recht und die Kinemathek Karlsruhe e.V. zur Gesprächs- und Filmreihe „Recht und Gerechtigkeit. Zwischen Utopie und Realität“ ein. Kathrin Schön, Programmkuratorin der Stiftung Forum Recht, und Carmen Beckenbach, Mitarbeiterin der Kinemathek, blicken zurück auf zehn Abende, an denen Expert:innen und Publikum abseits von Anwaltsserien und Krimifilmen Gerechtigkeitsvorstellungen vor der großen Leinwand verhandelten.

SFR: Von einem japanischen Spielfilm der 1950er-Jahre, über einen Hollywood-Kassenerfolg bis hin zu Dokumentationen aus Deutschland – die Filmreihe hat ein breites Spektrum eröffnet. Wie habt ihr die Auswahl getroffen?

Schön: Es gab einen roten Faden für die Filmreihe: Das Thema Recht und Gerechtigkeit. Wir wollten, dass die Themen, die wir in unserem Podcast „Justice, Baby!“ behandeln, in der Folgewoche im Kinoprogramm widerhallen. Sodass man, wenn man Lust auf das Thema hatte, entweder besonders informiert ins Kino gehen oder nach einem inspirierten Kinobesuch noch mal reinhören kann. Mir war es wichtig, die ganze Bandbreite der Filmkultur zu zeigen, nicht nur Filme, die unter die Haut gehen, sondern die den Kopf fordern. Dass die Kinemathek – der Ort für Filmkunst in Karlsruhe – Lust auf diese Kooperation hatte, hat mich daher besonders gefreut.

Beckenbach: Als Kathrin und ich zusammensaßen, war es wirklich ein Pingpong der Ideen – natürlich immer im Hinblick auf die Themen im Podcast. Das war gar nicht immer so einfach, einen passenden Film zu finden. Zum Beispiel bei dem Thema Gerechtigkeit und Sport. Ich habe dann „Die anderen Plätze“ von Simon Quack und Marco Kugel vorgeschlagen. 

Mir war es wichtig, die ganze Bandbreite der Filmkultur zu zeigen, nicht nur Filme, die unter die Haut gehen, sondern die den Kopf fordern.

Die beiden Filmemacher und die Produktionsfirma haben einen Karlsruhe-Bezug. Im Gegenzug hat Kathrin „König hört auf“ von Tilman König, der auf dem Filmfestival Dok Leipzig lief, eingebracht und damit den Leipzig-Bezug hergestellt. Mit „Rashomon“ haben wir ganz bewusst einen Klassiker zum Thema Gerechtigkeit gesetzt. In dem Film spielt das Gerichtsverfahren selbst eine Rolle und nicht nur ein Unrecht. Und da kommen wir auch zu dem, was immer dabei war und immer bereichernd war: die anschließenden Gespräche.

Stiftung: Welche Punkte aus den Expert:innengesprächen sind euch besonders in Erinnerung geblieben?

Beckenbach: Zum Beispiel unser Abend zu Gleichstellung mit dem Schweizer Film „Die Göttliche Ordnung“ und Verena Meister, der Gleichstellungsbeauftragten der Stadt Karlsruhe. Ich fand das so toll an diesem Abend, dass wir gemerkt haben, dass Frauen in ganz Europa auf die Straße gegangen sind und ihre Rechte und Mitbestimmung eingefordert haben. Zu erfahren, dass es eine Gleichstellungsbeauftragte qua Gesetz gibt. Man hat da die lange Geschichte von einem Kampf für mehr strukturelle Gewährleistung von Gleichheit in Ämtern kennengelernt.

Zwei Menschen sitzen auf einem Sofa vor Publikum und unterhalten sich
Kathrin Schön und Dr. Wolfgang Janisch im Gespräch anschließend an die Dokumentation „Invisible Hand“ (26. April 2023)

Schön: Ich habe an den Gesprächen und Fragen aus dem Publikum gemerkt, dass Recht und Rechtsthemen vor allem interdisziplinäre Themen sind. Der Gast zum ersten Film war Prof. Dr. Manfred Schmitt – ein Psychologe und Experte für die Erforschung von Rache und Gerechtigkeit. Das war spannend, weil ich gemerkt habe, dass die Frage nach Werten und Normen und danach, welche Regeln wir uns als Gesellschaft geben, jede Disziplin berühren.

Als wir vor über einem Jahr mit diesem Projekt losgelegt haben, stand ich noch in der Findungsphase dazu, was das Programm der Stiftung leisten kann. Schnell war klar, dass der fachübergreifende Blick  spannend ist – und funktioniert. Und zwar sowohl für Menschen mit und ohne juristischen Hintergrund. Die Gespräche haben gezeigt, dass die Besucher:innen ganz viele Bezugspunkte zur eigenen Lebenswelt gefunden haben.

Stiftung: Gab es noch Filme, die ihr gerne mitreingenommen hättet?

Beckenbach: Es gibt unbändig viele Filme, die man hätte hineinnehmen können. „Die zwölf Geschworenen“ von Sidney Lumet ist zum Beispiel so ein Klassiker. Aber in der Auswahl, die wir getroffen haben, sind all jene, die uns wichtig waren und die zu den Themen gepasst haben. Ich habe auch einen meiner Lieblingsfilme noch mal sehen dürfen – „Ariaferma“ von Leonardo Di Costanzo.

Schön: Wir haben uns bewusst nicht für Polizei- oder „Law and Order“-Filme entschieden, die Gerichte, die Justiz oder Anwält:innen offensichtlich thematisieren. Es ging uns eher um das Aushandeln von Werten und Normen und die Frage „Was ist das richtige Handeln in Situationen im rechtlichen Graubereich?“ Beim Thema „Rache“ haben wir zum Beispiel „Three Billboards Outside Ebbing, Missouri“ gezeigt. Ja, es geht darin zwar auch um die juristische Aufarbeitung eines tragischen Todesfalles. Aber eben auch darum, wie man damit umgeht, wenn eine Ermittlung ins Leere führt. Das ist im Grunde das Schöne daran gewesen: Dass wir menschliche Erfahrungen von und mit Recht bei diesem Film in den Vordergrund rücken konnten.

Stiftung: Neben dem Programm und den Gesprächen war auch der Ort besonders. Können Programmkinos wie die Kinemathek Karlsruhe sogenannte „Dritte Orte“ sein, wo Menschen sich jenseits von Arbeit und Zuhause austauschen und begegnen können?

Beckenbach: Ich glaube, dass ein Kinosaal eine andere emotionale Dimension für Gäste hat. Man kann über Recht und Gerechtigkeit auch im Vortragssaal reden. Aber es ist eine ganz andere Nummer, wenn man gemeinsam im Kino sitzt, dieses immersive Erlebnis hat und dann im Anschluss daran reden kann. Wir wollten keine Filmanalyse machen, sondern Expert:innen einladen und einerseits die Filme unter die Lupe nehmen und andererseits den Blick weiten. Das fand ich im Zusammenspiel stimmig.

Bis vor einigen Jahren haben die meisten Kinos Filme ausgesucht, von denen sie ausgingen, dass sie zur Zielgruppe passen könnten. Der Kinematik ist es ein großes Anliegen, andere Wege zu gehen. Sie schaut: OK, diese Community will jetzt aus einem bestimmten Grund den Film sehen.

Das mag per se kein Filmklassiker, Arthouse oder Autor:innenfilm sein. Das nimmt zu und wird sehr dankbar angenommen. Wir haben auch noch unser normales Programm mit Dokumentarfilmen, Klassikern etc., aber die Community-Arbeit ist wichtig. Die Kinemathek hatte mit dem Quartierskino zum Beispiel ein Projekt mit direktem Bezug zur Stadt und zu den Menschen in der Stadt. Deswegen fand ich es spannend, dass bei der Reihe jedes Mal eine andere eigene Community kam. Die sich zum Beispiel mit Rechten von Menschen mit Einschränkungen oder mit modernem Strafvollzug beschäftigen. Die kamen spezifisch zu dem Thema oder wegen der eingeladenen Expert:innen.

Ich glaube, dass ein Kinosaal eine andere emotionale Dimension für Gäste hat.

Schön: Den Eindruck würde ich teilen. Ein von der „Community“ kuratiertes Programm könnte ich mir auch gut vorstellen, wenn die Stiftung noch mal eine Filmreihe macht. Man könnte dann auch beim Begleitprogramm mit Vereinen, Jugendgruppen und städtischen Initiativen zusammenarbeiten. Ich sehe da ganz viel Potenzial für die Arbeit der Stiftung in der Zukunft. Co-Kreativ entwickelte Programme schaffen einen echten Mehrwert – für alle Beteiligten.

Zwei Personen sitzen auf einem Sofa und unterhalten sich. Vor ihnen sitzen kreisförmig Zuhörende
Prof. Dr. Manfred Schmitt sprach mit dem Publikum ausgehend vom Film "Three Billboards Outside Ebbing, Missouri" über psychologische Perspektiven auf Gerechtigkeitsempfinden (19.10.2022).

Stiftung: Die Filmreihe trägt den Untertitel: „Zwischen Utopie und Realität“. Was wolltet ihr damit ansprechen? Und – wie gerecht sind die Zukunftsbilder, die da vielleicht auch mitschwingen?

Schön: Der Untertitel macht deutlich, dass Gerechtigkeit eine subjektive Angelegenheit ist und es dabei um das Abprüfen von persönlichen Erwartungen mit der Realität geht. Alle Filme zeigen Protagonistinnen und Protagonisten, die der Wunsch nach Gerechtigkeit antreibt, der eben sehr unterschiedlich und auch persönlich aussehen kann. Das ist der Teil der Utopie. Der Rechtsstaat und das Recht hingegen versuchen ja möglichst objektive Regeln für subjektive Erfahrungen zu finden – und da kommt dann der Realitätscheck aus dem Untertitel ins Spiel. Zu zeigen, dass es in einem Rechtsstaat um genau dieses Aushandeln und auch das Verstehen der Grenzen von Recht geht, war für die Filmreihe ganz bedeutend.

Dass Utopien beflügeln und eine Diskussion über Recht im Alltag stoßen können, hat der Spielfilm „Glück auf einer Skala von 1 bis 10“ gezeigt, den wir zum Schwerpunkt Inklusion ins Programm genommen haben.

Das ist ein klassischer Roadmovie mit einem Hauch Coming-of-Age: Zwei Menschen– einer mit und einer ohne Handicap – begeben sich darin auf eine Reise und kommen als glücklichere Menschen an ihr Ziel. Der Film zeichnet ein Bild von gelebter Inklusion, das Hoffnung macht, auch wenn das Filmgespräch im Anschluss gezeigt hat, dass wir vom Erreichen dieser Utopie rechtlich und gesellschaftspolitisch noch weit entfernt sind. Ich hoffe, dass wir mit dem Film Emotionen geweckt und Lust darauf gemacht, Lösungen zu finden, wie wir eine gerechtere Gesellschaft gestalten können. Dafür braucht es positive Visionen – aber eben auch knallhartes Handwerkszeug – und das ist dann eben das Recht.

Beckenbach: Wenn wir jetzt aber die Utopie tatsächlich filmisch denken, dann sind wir oft im Bereich der Science-Fiction. Die hatten wir tatsächlich gar nicht drinnen und ich habe darüber in den letzten Tagen öfter nachgedacht. Wenn ich an das Thema Utopie denke, dann fallen mir nur ganz wenige Filme ein, die eine Lösung zeichnen: Zukunft ist da oft verdorrt, vertrocknet, eine Dystopie und keine Utopie. Ich finde es eigentlich schade, dass Lösungen weniger präsent sind.

Stiftung: Eine Frage zum Schluss: Hat sich eure persönliche Vorstellung von Gerechtigkeit durch die Filmreihe und die Gespräche verändert?

Beckenbach: Kurze Antwort: Eher nicht. [Beide lachen]

Schön: Bei mir auch nicht. Aber was ich wirklich sehr schön und bewegend fand, ist, dass es trotz unterschiedlichster Definitionen und individueller Vorstellungen von Gerechtigkeit einen gemeinsamen Nennen gibt. Letztendlich geht es nämlich immer um Gleichheit und dass niemand aufgrund ungleicher Startvoraussetzungen benachteiligt werden soll. Das zeigt auch die Forschung. Professor Manfred Schmitt hat erklärt: es gibt universelle Fairnessprinzipien, gerade bei der Verteilung von Ressourcen, die unabhängig von Status, Alter, Herkunft oder Geschlecht gelten.  Und zwar überall auf der Welt. Bei allen Konflikten und Krisen, die Gesellschaften aktuell zu spalten drohen, hat das etwas sehr Verbindendes.

Beckenbach: Das ist doch ein prima Schlusssatz.

Stiftung: Vielen Dank für die Einblicke 

Die Reihe gab die Möglichkeit, inspiriert von einer vielfältigen Filmauswahl gemeinsam mit Expert:innen verschiedene Aspekte von Gerechtigkeit zu beleuchten. Wir danken den Besucher:innen und Expert:innen, die in den vergangenen Monaten auf eine cineastische Suche nach Gerechtigkeit gegangen sind. Die Filmreihe zu „Recht und Gerechtigkeit“ ist nun abgeschlossen – alle Folgen des Podcasts können aber hier weiterhin gestreamt werden. Sie haben Lust, sich ausgehend von Filmen über Recht und Rechtsstaat auszutauschen? Im Begleitprogramm unserer aktuellen Fotoausstellung „Sprawiedliwość – Gerechtigkeit“ zeigen wir gemeinsam mit der Kinemathek Karlsruhe am 22. Februar und 7. April 2024 den Film „Polen und die Demokratie – Richter unter Druck“ (Polen 2022)

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#LetsTalkAboutRecht

Zwei Frauen stehen lächelnd nebeneinander, eine hält den Flyer "Filmreihe zu Recht und Gerechtigkeit" in den Händen
Die Organisatorinnen Carmen Beckenbach und Kathrin Schön in der Kinemathek Karlsruhe

Filme der Reihe

19. Oktober 2022 Three Billboards Outside Ebbing, Missouri
(Martin McDonaugh, USA 2017)

23. November 2022 Toubab
(Florian Dietrich, Deutschland 2017) 

22. Februar 2023 Die Göttliche Ordnung
(Petra Volpe, Schweiz 2016)

22. März 2023 Ariaferma
(Leonardo Di Costanzo, Italien/Schweiz 2021)

26. April 2023 Invisible Hand
(Joshua B. Pribanic/Melissa A. Troutman, USA 2020)

24. Mai 2023 Glück auf einer Skala von 1 bis 10
(Bernard Campan/Alexandre Jollien, Frankreich 2022)

21. Juni 2023 Oeconomia
(Carmen Losmann, Deutschland 2020)

27. September 2023 König hört auf
(Tilman König, Deutschland 2022)

18. Oktober 2023 Die anderen Plätze
(Marco Kugel/Simon Quack, Deutschland 2016/7)

29. November 2023 Rashomon
(Akira Kurosawa, Japan 1950)

Podcast "Justice, Baby!"

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