„Freie Gerichte,
freie Wahlen,
freies Polen“
Die rechtskonservative Regierung der Partei PiS („Prawo i Sprawiedliwość“ / „Recht und Gerechtigkeit“) baute zwischen 2015 und 2023 das polnische Justizsystem grundlegend um.
Schrittweise veränderten ab 2016 Justizreformen die Arbeitsbedingungen für Staatsanwält:innen und Richter:innen. So mussten sie zum Beispiel ab 2018 mit Zwangsversetzungen und Suspendierungen durch eine neugeschaffene Disziplinarkammer rechnen. Damit schaffte die PiS de facto die Unabhängigkeit der Justiz in Polen ab.
Verschiedene Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen stellten sich diesen Eingriffen entgegen. Die Reformen der polnischen Justiz führten ab 2017 zum Konflikt mit der Europäischen Union und dem Europäischen Gerichtshof und lösten wiederholte Proteste der Bevölkerung aus.
Engagement für den Rechtsstaat im Fokus
Piotr Wójcik, langjähriger Fotojournalist der polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza und Hochschuldozent, nahm dieses Engagement als Ausgangspunkt für das Fotografie-Projekt Sprawiedliwość: „Ich habe daraufhin beschlossen, die Profile dieser Personen zu dokumentieren und zu präsentieren, die den Mut hatten, ‚Nein‘ zur Zerstörung des Rechtssystems in Polen zu sagen.“ Die Bilder und Interviews mit den polnischen Jurist:innen entstanden von 2020 bis 2021. Gemeinsam mit der Fundacja Picture Doc zeigt die Stiftung Forum Recht diese erstmals in Deutschland an ihren Standorten in Karlsruhe und Leipzig.
In Kooperation mit der Fundacja Picture Doc
Justizreformen (2015-2024)
2015
Fünf Posten am Verfassungsgericht werden doppelt besetzt, jeweils durch unterschiedliche Mehrheiten vor und nach der Parlamentswahl.
Die Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) erhält bei der Parlamentswahl 37,6 % und löst die Koalitionsregierung unter Führung der Bürgerplattform (PO) ab.
Der Justizminister wird zugleich zum Generalstaatsanwalt ernannt; er kann so in Gerichtsverfahren eingreifen.
2016
Die EU-Kommission gibt ihre erste offizielle Warnung wegen der umstrittenen polnischen Justizreform ab.
2017
Die Parlamentsmehrheit der PiS verschafft sich per Gesetz Zugriff auf die Besetzung des Obersten Gerichts. Zudem wird dort das Renteneintrittsalter herabgesetzt und eine Disziplinarkammer gegründet.
Die EU leitet gegen Polen ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren ein. Dieses könnte zu einer Aussetzung des polnischen EU-Stimmrechtes führen. Weitere Vertragsverletzungsverfahren folgen.
2018
Zahlreiche Richter:innen des Obersten Gerichts werden zwangspensioniert.
2019
Polens stellvertretender Justizminister Łukasz Piebiak tritt zurück, nachdem seine Beteiligung an einer Hasskampagne gegen kritische Richter:innen bekannt geworden war.
Die PiS wird bei den Parlamentswahlen mit 43,6 % wiedergewählt.
Das sogenannte „Maulkorbgesetz“ wird verabschiedet und verbietet Richter:innen, die Justizreform der PiS zu kritisieren.
2020
Beim „Marsch der Tausend Roben“ protestieren 30.000 Jurist:innen aus ganz Europa in Warschau gegen die repressiven Maßnahmen der polnischen Regierung.
2021
Der Europäische Gerichtshof verfügt, Polen müsse Teile der Justizreform aussetzen, etwa die Tätigkeit der Disziplinarkammer.
2022
Das polnische Parlament stimmt der Auflösung der Disziplinarkammer zu, um u.a. den Konflikt mit der EU zu verringern.
2023
PiS verliert bei den Parlamentswahlen mit 35,4 % die Mehrheit. Donald Tusk (PO) wird neuer Ministerpräsident.
2024
Mit ihren Bemühungen, die Justiz sowie die öffentlich-rechtlichen Medien zügig zu reformieren, setzt sich die neue Regierung dem Vorwurf des Rechtsbruchs aus. Der PiS-nahe Staatspräsident Andrzej Duda spricht vom „Terror der Rechtsstaatlichkeit“.
„Zostańcie“ – „Bleibt“
„[…] Richter:innen und Staatsanwält:innen sind jetzt die Angeklagten. Sie sind es, die Verteidiger:innen brauchen.“ Diese Aussage stellte 2021 die polnische Journalistin Ewa Siedlecka der Ausstellung Piotr Wójciks voran. In einem Video fängt er die Stimmung der Demonstrierenden ein, die für Richter:innen und Staatsanwält:innen auf die Straße gehen. Und die Jurist:innen ermutigen – trotz politischen Drucks – zu bleiben.
Staatsanwält:innen unter Druck
Die Journalistin Ewa Siedlecka beschreibt die Situation der Staatsanwält:innen in Polen 2021 als besonders dramatisch. 2016 schaffte ein Gesetz des Parlaments die Grundlage für die Verschmelzung des Amtes des Justizministers und der Generalstaatsanwaltschaft. Dem Justizminister steht es dadurch offen, in staatsanwaltschaftliche Ermittlungen einzugreifen. Staatsanwält:innen, die etwa der unabhängigen Vereinigung „Lex Super Omnia“ („Gesetz über alles“) angehören, wurden teils an entlegene Gerichte versetzt oder mit Disziplinarmaßnahmen belegt.
Katarzyna Kwiatkowska
Staatsanwältin seit 1991
Bezirksstaatsanwaltschaft
Warschau-Praga
„Zunächst wurden diese 113 Staatsanwält:innen degradiert. Die Referatsleiter:innen wurden ersetzt. Die Amtszeiten wurden abgeschafft. Auswahlverfahren wurden abgeschafft. Es wurde ein Kader von Staatsanwält:innen geschaffen, die der Führung der Staatsanwaltschaft treu dienen und ihr gegenüber sehr loyal sind. Die Art des Managements zeigt, dass die Führung die Staatsanwaltschaft von einem autonomen Organ des Staates in eine Art uniformierten Sonderdienst verwandeln will. Dies soll nach dem Prinzip „es gibt einen Befehl, du hast ihn zu befolgen und nicht zu widersprechen“ geschehen. Und das hat mit einer Staatsanwaltschaft, geschweige denn einer europäischen Staatsanwaltschaft, nichts mehr zu tun.“
Jarosław Onyszczuk
Staatsanwalt seit 1998
Bezirksstaatsanwaltschaft
Warschau-Mokotów
„Ich habe keine Angst vor Vergeltungsmaßnahmen bei der Staatsanwaltschaft, auch nicht vor einem Versuch, mich aus dem Beruf zu entfernen. Mental habe ich diese Schwelle der Besorgnis oder Angst bereits überwunden. Auf viele Dinge, wie die Abordnung, bin ich vorbereitet. Ich kann jedes Jahr in irgendeine Einheit versetzt werden und ich kann es ganz sicher aushalten. Es wird mich nicht brechen und es wird meine Überzeugung der Rechtsstaatlichkeit oder meine Kritik an negativen Entwicklungen der Staatsanwaltschaft nicht ändern.“
Mehr: Verkehrung der Rollen
Katarzyna Szeska hat die Betrachtenden fest im Blick. Doch die Komposition von Piotr Wójcik, wie sie in der physischen Ausstellung zu sehen ist, zeigt mehr. Drei Miniaturen im rechten oberen Bildrand zeigen die Staatsanwältin im Profil. Wir blicken auf sie – im Profil kann sie diesen nicht erwidern. Die rahmende Farbe greift das Rot der staatsanwaltlichen Robe auf – und verweist auf ihr Amt. Doch das Zusammenspiel aus Miniaturen und Porträt erinnert eher an erkennungsdienstliche Bilder. Damit verweist Wójcik auf die Verkehrung der Rollen durch die Justizreformen in Polen für Staatsanwält:innen.
„Die Staatsanwaltschaft war in den 20 Jahren, in denen ich sie von innen beobachte, immer ein wunderbares Spielzeug in den Händen der Politiker. Wer auch immer an die Macht kam, bekam dieses wunderbare Spielzeug.
Es muss eine mentale Revolution in unserer politischen Klasse geben. Ohne unabhängige Gerichte und eine unabhängige Staatsanwaltschaft werden wir niemals einen Rechtsstaat haben. Ich bin eine Idealistin und ich träume von dem Ideal einer Staatsanwaltschaft ohne diese politische Kappe.“
Freiheiten garantieren, Rechte respektieren
Dorota Zabłudowska
Richterin seit 2002
Landgericht Danzig
„Der Staat ist dazu da, den Bürger:innen zu dienen, sie zu schützen, ihre Sicherheit zu gewährleisten, ihre Freiheiten zu garantieren und ihre Rechte zu respektieren. Und ich wage zu behaupten, dass von den Kriterien, die ich aufgezählt habe, ich nicht weiß, ob irgendeines von ihnen im Moment so hundertprozentig erfüllt wird.“
Der Fall Igor Tuleya
Seit 1996 ist Igor Tuleya Richter. Unter anderem seine vehemente Kritik an der Justizreform machte ihn in Polen, aber auch international, bekannt. Die sogenannte Disziplinarkammer wurden 2017 gegründet. Tuleya wurde 2020 durch sie für beinahe zwei Jahre suspendiert und verlor seine richterliche Immunität. Die Disziplinarkammer ist mittlerweile wieder aufgelöst. Seit 2022 ist Tuleya wieder als Richter tätig. Die Bilder und das Zitat entstanden in der Zeit von 2020 bis 2021.
Richter seit 1996
Landgericht Warschau
„Wir mögen machtlos sein, aber wir sind nicht wehrlos. Und heute, und das werde ich immer sagen: Es lohnt sich, die Werte zu verteidigen. Und für ihre Verteidigung lohnt es sich, jeden Preis zu zahlen. Solange wir kämpfen sind wir Gewinner. Es gibt Sonnenschein hinter den Wolken und selbst nach der längsten Nacht kommt ein neuer Tag. Davon bin ich überzeugt.“
Mehr
Am 20. Januar 2021 kam es zu einer Demonstration und Pressekonferenz gegen den Fall vor dem Gebäude der Generalsstaatsanwaltschaft in Warschau. Zu sehen sind unter anderem Igor Tuleya (Mitte), Richter Krystian Markiewicz und Anwalt Michał Wawrykiewicz.
„Jurist:innen guten Willens“
Eine „Koalition von Jurist:innen guten Willens“ – so bezeichnete 2021 die polnische Journalistin Ewa Siedlecka die Gruppe der Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen, die sich beharrlich für die Prinzipien des Rechtsstaats engagieren. Sie generierten Öffentlichkeit für den Rechtsstaat unter Druck und verteidigten Richter:innen und zivilgesellschaftliche Akteur:innen.
Sylwia Gregorczyk-Abram
Anwältin seit 2010
„’Freie Gerichte'“ war eine spontane Aktion. Plötzlich, im Juli 2017, bekomme ich eine SMS von Michal Wawrykiewicz mit einem Drehbuch und dem Vorschlag, Videos über die Rechtsstaatlichkeit aufzunehmen: ‚Morgen um 13 Uhr in der Wiejska Straße‘. Ich hole Marysia Ejchart-Dubois ab, mit der ich bereits im Rahmen des Vereins Hołdy zusammengearbeitet hatte, sowie Paulina Kieszkowska-Knapik. Eine Woche nach der Gründung von ‚Freie Gerichte‘ hielten wir am Abend eine Rede auf dem Krasiński-Platz, wo tausende Menschen bis zum Horizont versammelt waren.“
Radosław Baszuk
Anwalt seit 1992
„Ich habe wahrscheinlich über hundert Verteidigungen in Ordnungswidrigkeitenverfahren im Zusammenhang mit der Teilnahme an friedlichen Versammlungen übernommen. Ich verteidige Sozialaktivist:innen in mehreren Strafverfahren. Ich vertrete auch ungehorsame Richter:innen in Disziplinar- und Immunitätsverfahren. Ich bin überzeugt, dass ziviler Widerstand in der Lage ist, den Kurs des Staates in Richtung Autoritarismus, wenn nicht zu stoppen, so doch zumindest zu verlangsamen. Widerstand macht Sinn.“
Richter:innen unter Druck
Nicht zuletzt durch die Einrichtung der Disziplinarkammer sahen sich Richter:innen in Polen zusehends unter Druck. Der Fotograf Piotr Wójcik beschreibt, dass Richter:innen durch die rechte Presse, aber auch die von der PiS-Partei unterstützen öffentlich-rechtlichen Medien diffamiert wurden.
Die Journalistin Ewa Siedlecka beschreibt, vor welchem Hintergrund dies möglich war: „Die Arbeitsweise der Justiz wird in Polen seit den frühen 1990er Jahren heftig kritisiert, manchmal zu Recht, manchmal zu Unrecht.“ Dem Druck etwa durch die Disziplinarkammer ab 2017 trotzen einige Richter:innen: „Sie machten die Unabhängigkeit zum Synonym für die Würde der Justiz. Paradoxerweise hat die verfassungsfeindliche PiS-Partei die Richter:innen, die sich jahrelang geweigert hatten, sich bei ihren Urteilen auf die Verfassung zu berufen, zu der Erkenntnis gebracht, dass ihre Macht und Stärke auch in der Anwendung der Verfassung liegt. […] Der Preis dafür ist ein Disziplinar- sowie Strafverfahren und der Verlust der Möglichkeit, ihren Beruf auszuüben.“
In ihren Gesprächen in der Zeit von 2020 bis 2021 mit dem Fotojournalisten Piotr Wójcik gaben diese Richter:innen Einblick in ihre persönliche Sicht auf die Entwicklungen. Aber auch auf das Richteramt und den Rechtsstaat.
„Die Richter:innen haben es tunlichst vermieden, sich in alltäglichen Situationen zu zeigen, z.B. bei der Gartenarbeit oder beim Aufpumpen eines Fahrradreifens vor einem Supermarkt.
Und das hat sich zu unserem Nachteil ausgewirkt. Denn da niemand uns von dieser menschlichen, normalen Seite kennt, ist es wirklich einfach, den Charakter eines so schrecklichen Richters oder einer Richterin zu erschaffen.“
Joanna Hetnarowicz-Sikora
Richterin seit 2006
Bezirksgericht Słupsk
„Wir werden nicht länger still sein und tatenlos zusehen, wie die Rechtsstaatlichkeit zerstört wird. Eine von den Machthabern völlig unvorhergesehene Nebenwirkung ihres Handelns ist dieser bereits bestehende Widerstand der Justiz, einer Gemeinschaft, die einmütig und gemeinsam – Schulter an Schulter – für die Bürger:innenrechte kämpft. Niemand hat damit gerechnet, denn jahrelang waren wir nicht darauf vorbereitet.“
Beata Morawiec
Richterin seit 1990
Landgericht Krakau
„Wenn wir eine Regierung und ein Parlament aus einer einzigen Partei haben, was fehlt diesen politischen Organen dann zur vollen Macht? Nur die Gerichte. Wenn eine politische Gruppierung über eine Mehrheit im Parlament, eine eigene Regierung und einen Präsidenten der gleichen politischen Überzeugung verfügt, kann sie nur befürchten, einen Fall vor Gericht zu verlieren. Denn hier haben sie es mit einem oder einer unabhängigen Richter:in zu tun, der oder die sich nur vom Gesetz leiten lässt und den Streit unparteiisch und nicht immer zugunsten der politischen Macht entscheidet.“
Bartłomiej Starosta
Richter seit 2008
Bezirksgericht Sulęcin
„Für mich ist die Verfassung ein Schutzschild, um die Rechte und Freiheiten der Bürger:innen zu verteidigen. Sie soll jede Regierung in Schach halten, damit diese nicht zu einer erdrückenden Macht über die Bürger:innen wird und damit die Rechte aller – auch derer, die in der Minderheit sind – geschützt werden. Sie ist ein Vertrag, den wir als Gesellschaft geschlossen haben und an den wir uns alle – insbesondere die Regierung – halten müssen.“
Bartłomiej Przymusiński
Richter seit 2007
Bezirksgericht Posen – Stare Miasto
Und Jetzt?
Piotr Wójcik porträtierte die Jurist:innen von 2020 bis 2021. Mittlerweile wurde die Disziplinarkammer wieder aufgelöst. Die Neuwahlen in Polen im Herbst 2023 veränderten die Mehrheiten im Parlament – und erteilten der PiS-Partei nach neun Jahren Regierungszeit eine Absage. Ist damit wieder alles rückgängig gemacht? Welches Erbe haben die Proteste und Erfahrungen dem polnischen Rechtsstaat gegeben? Hören Sie hier den Perspektiven drei der porträtierten Jurist:innen zu, die Piotr Wójcik exklusiv für die Stiftung Forum Recht 2024 erneut interviewte.
Staaatsanwältin Katarzyna Kwiatkowska
Richter Igor Tuleya
Anwalt Radosław Baszuk
Wie selbstverständlich ist richterliche Unabhängigkeit? Was macht gute Richter:innen aus? Und warum lohnte es sich dafür einzustehen? Die Bilder und Zitate, die Piotr Wójcik präsentiert, regen zum Nachdenken und zum Austausch an. Genau dazu luden wir vom 16. Februar bis 07. April 2024 in unsere Räume nach Karlsruhe und Leipzig ein.
Was passiert, wenn die Politik versucht, den Rechtsstaat zu untergraben? Piotr Wójciks Porträtfotografien polnischer Richter:innen, Staats- und Rechtsanwält:innen, die sich gegen die Aushöhlung des polnischen Rechtsstaates stellten, zeigten unserem interessierten Publikum auf eindrucksvolle Weise: Für den Erhalt des Rechtsstaats bedarf es immer auch den Einsatz der:des Einzelnen!